Nightmare on Elisabethstreet

Nightmare on Elisabethstreet

Auch der letzte Tag des Oktobers war einer, wie er für Marburg typisch war. Der Himmel war herbstlich verhangen und die Hörsäle und Seminarräume noch mit der Motivation des Semesteranfangs bedacht. Denn ohne es zu wissen, vereinte die Studierenden alle der kollektive Glaube, dass dieses Semester endlich alles anders werden würde. Mit ein paar Ausnahmen natürlich: Auch die für ihre menschenfängerische Aura berühmten Kneipen waren wieder aus ihrem Sommerschlaf erwacht und warteten nur darauf, mit ihren rostigen Nägeln und Nüsschen die jungen Gemüter zu betören und zu halsbrecherischen Aktionen zu motivieren. Auch Philipp war motiviert. Zwei Wochen Uni waren vergangen und damit wollten er und ausnahmslos die gesamte studentische Gemeinschaft an diesem Tag dies in angemessenen Rahmen begießen. Noch dazu war Halloween, das Philipp und seine Freunde zum ersten Mal und auch letzten Mal in ihrem Leben in Marburg gemeinsam begehen wollten. Nico, Philipps bester Kumpel, hatte die Idee, dass sich alle, auch in Erinnerung an diesen großartigen Sommer, der sich jetzt wie damals wie ein einziger Rausch aus perfektem Wetter, Open-Air-Raves und kühlem Gerstensaft anfühlte, nochmals in die Natur begeben. Ein kleines Techno-Open-Air im Wald unter Freunden. Dazu dämlich verkleidet und mit dem ersten Glühwein versorgt. Wie sollte man die bösen Geister besser vertreiben können?

Als erstes spazierten die beiden Jungs in den nächsten Secondhandshop und kramten sich durch das Abteil der verrückten Hinterlassenschaften. Nico war schon lange ein sehr guter Freund Philipps. Er hatte ihn im ersten Semester kennengelernt und seitdem waren sie im Studium durch dick und dünn gegangen. So euphorisch wie dieser Tage hatte Philipp seinen Kumpel allerdings lange nicht mehr erlebt. Im letzten Jahr hatte er ein paar persönliche Krisen durchlitten und wollte eine Weile sogar nicht mehr aus seinem Zimmer kommen. Doch in den letzten Wochen ging es ihm deutlich besser; als er mit der Idee für Halloween ankam, konnte Philipp ihm das natürlich nicht ausschlagen. Auch wenn er selbst ja eigentlich nicht so auf Grusel-Kram stand. Im Secondhandshop hatten sie so viel Spaß wie ewig nicht, zogen sich witzige Mäntel, graue Hüte und verrückte Kravatten an. Als Philipp einmal Nico den Hut abzog, flogen ein paar Haare mit heraus. Philipp schaute seinen Freund an: Er hatte am oberen rechten Haaransatz einen Büschel verloren. Nico aber scherrte sich nicht drum. Er lachte: “Ja, ich glaube, ich werde alt. In letzter Zeit verliere ich immer mal welche.” Philipp fand das eher beunruhigend. Aber er wollte nicht klugscheißen. Doch dann passierten noch mehr seltsame Dinge: Erst nahmen Nicos Lippen einen merkbar dunkleren Ton an und dann fiel plötzlich etwas weißes vor Nico auf den Boden. Dieser zeigte zunächst keinerlei Reaktion, erschrak dann aber fürchterlich, als er erkannte, was Philipp sich vor ihn bückend aufhob: Es war sein Schneidezahn. Doch nicht nur das, auch hatte der seltsamerweise  keinerlei Blut an sich kleben. Als dies geschah, wurde Nico nervös. Er griff nach dem Zahn aus Philipps offener Hand und drehte sich eilig zum Verlassen des Ladens um. “Muss am neuen Medikament liegen”, sagte er noch im Gehen. “Also, wir treffen uns morgen Abend um neun oben auf der Waldlichtung. Sei pünktlich!”, er hob zum Abschied die Hand und war im Bruchteil einer Sekunde aus dem Laden verschwunden.

Als Philipp nach Hause kam, ließ ihn der merkwürdige Auftritt von Nico nicht los. Also tat er, was jeder vernünftige Mensch bei Fragen, die medizinischer Expertise bedürfen, macht: Er googelte nach Nicos Symptomen. Und zack, Treffer! Gleich das erste Suchergebnis. Auf gutefrage.net beschreibt CrazyPsychopath1847 die gleichen Symptome wie Nico. Haarausfall und Paradontitis extremus. Außerdem fange seine Haut bei direkter Sonneneinstrahlung an zu schimmern. Ob Nico auch an letzterem Symtpom litt, konnte Philipp nicht überprüfen, denn der Himmel war in letzter Zeit – typisch für Marburg – wolkenbedeckt. Allerdings würde dieses Symptom Nicos plötzliche gute Laune erklären. “Ach, was wäre das Leben schön, wenn ich im Sonnenlicht schimmern würde…”, beginnt Philipp zu träumen, bis er sich den Diagnosen der gutefrage.net-Community widmet. Nachdem Philipp die fünfte Diagnose eines Digitaldoktors gelesen hatte, war er verwirrt. Das Spektrum der Befunde reichte von einer seltenen Unterart des gemeinen Dschungelfiebers bis hin zu Kniekehlenkrebs. Doch noch bevor er seinem Freund von den Ergebnissen seiner Recherche berichten konnte, erinnerte Philipp sich an eine alte indianische Weisheit: “Fragst du digital nach Krankheiten, so ist es Sitte, hast du bestimmt doch eh nur Grippe”. Das ließ ihn für einen kurzen Moment aufatmen. Ruhiger konnte er diese Nacht aber trotzdem nicht schlafen.

Es war 6:06, als er schweißgebadet aus einem Alptraum erwachte. Dunkel erinnerte sich Philipp an eine wilde Schwarzlicht-Orgie. Das Glitzer der Feierwütigen hatte sich in die Haut eingefressen und erzeugte eine Art Phosphor-Leuchten, das alle erblinden und in einen kollektiven Wahnrausch verfallen ließ, bis sie sich gegenseitig die Haut mit den Fingernägeln abkratzten. In seinem Kopf hallten noch die harten Techno-Bässe und die ekstatischen Schreie der blutverschmierten Menschen nach, als er sein Handy neben seinem Kopfkissen aufleuchten sah. Sechs verpasste Anrufe, alle von Elisabeth. Er öffnete die VoiceMail, die sie ihm zuletzt geschickt hatte. Zunächst hörte man nur ein Atmen, hektisch, als würde sie rennen. Dann ein Raunen: „Scheiße… War das deine Idee?? Ist verdammt nochmal nicht lustig, ich…“. Ende der VoiceMail. Philipp drückte auf „wählen“, doch ihr Akku war wohl bereits leer. Er war verwirrt, seit ihrem Streit vor zwei Wochen hatte er nichts mehr von Elisabeth gehört und vermutlich war sie immer noch sauer, dass er sie damals zu dieser dummen Aktion überredet hatte. Wahrscheinlich wollte ihr betrunkenes Ich ihm auch nur ein schlechtes Gewissen einreden und das konnte er im Moment echt nicht gebrauchen. Philipp ging davon aus, dass sie ihn früher oder später sowieso erreichen würde, wenn es wichtig sein sollte und jetzt, da er einmal wach war, könnte er auch gleich die letzten Vorbereitungen für den Abend treffen. Nico hatte ihn damit beauftragt, Fackeln und die nötige Grundausstattung an Alkohol und sonstigen Gaumenfreunden für die Grusel-Session im Wald zu besorgen. Um die Musik, die Deko und das “gewisse Extra” wollte Nico sich höchst persönlich kümmern. Philipp hatte ihn schon lange nicht mehr so hingebungsvoll an einem Projekt arbeiten sehen, es war schon fast pedantisch und er machte sich Sorgen, dass es womöglich doch der größte Reinfall aller Zeiten werden könnte.

Mit einem gemieteten Studibus karrte Philipp gegen späten Nachmittag einige Kisten Bier für sich und seine Freunde zum ausgemachten Spot. Von Nico war noch nichts zu sehen, aber seine Freunde Gregor, Paula und Ines sorgten schon für die angemessene Stimmung. So langsam wurde Philipp immer aufgeregter. Er spürte dieses Kribbeln in seinem ganzen Körper, wie vor jedem Rave im Sommer. Doch dieses Mal war etwas anders. Dieses Mal war es noch eine andere Art des Kribbelns, welches er in seinem Nacken spürte. Er wandte sich ein paar Mal um, hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. “Was hast du denn?”, fragte Ines ihn, als sie dabei waren, die Bierkisten zur improvisierten Bar zu tragen. “Nichts, ich freu mich nur.” spielte Philipp die ganze Sache runter. Er zog sein Handy aus der Hosentasche, um Elisabeth nochmal zu erreichen, aber ihr Handy war immer noch aus.

,,Du bist wohl immer noch nicht über sie hinweg, was?”, feixte Gregor, der über Philipps Schulter auf seinem Handy mitgelesen hatte. ,,Ich hab gehört, Nico hat sie auch eingeladen. Vielleicht entschuldigst du dich später einfach mal bei ihr. Wenn sie dich dann aber trotzdem nicht will…” Vielsagend zwinkerte Gregor ihm zu. ,,Ach, kümmer dich doch um deinen eigenem Kram!”, entgegnete Philipp. Gregor, dieser Idiot – was wusste er schon über Elisabeth und ihn? Dass Nico sie ebenfalls eingeladen hatte, war Philipp aber tatsächlich neu. Vielleicht würde sich dann wenigstens aufklären, was in der letzten Nacht vorgefallen war. Nico selbst hatte sich aber immer noch nicht blicken lassen. Wo steckte der Kerl bloß? Es war doch sonst nicht seine Art, seine Freunde so auf ihn warten zu lassen. ,,Philipp, du träumst schon wieder!”, riss ihn Ines aus seinen Gedanken. ,,Kannst du vielleicht noch die restlichen Fackeln aus dem Auto holen? Wir haben direkt dort hinten geparkt.” Ines deutete auf einen schmalen Pfad, der in den dunklen Wald führte. Schnell setzte sich Philipp in Bewegung. Mit Gregor wollte er ohnehin nicht mehr Zeit als nötig verbringen.

Der Weg, den Ines ihm gezeigt hatte, schlängelte sich durch die dicht an dicht stehenden Bäume. Schon bald konnte Philipp die Stimmen und das Gelächter der anderen nur noch ganz leise wahrnehmen und die Dunkelheit hatte ihn fast gänzlich umschlossen. ,,Kein Wunder, dass die Gebrüder Grimm sich in Marburg solche Horrorgeschichten ausdenken konnten”, dachte Philipp gerade, als er direkt vor sich ein lautes Knacken hören konnte. Gab es hier Tiere? Wildschweine vielleicht? Philipp war ein Stadtkind und kannte Schweine jeder Art nur aus dem Streichelzoo oder auf dem Teller. Im Dunkeln konnte er kaum erkennen, was direkt vor ihm war. Da, schon wieder! Die Geräusche kamen eindeutig näher: Das Knacken von Ästen, das Rascheln von Laub. ,,Hallo? Ist da jemand?”, fragte Philipp. Erschrocken stellte er fest, dass Angst in seiner Stimme mitschwang. Das Knacken war nun unmittelbar in der ersten Baumreihe vor ihm. Er hörte, wie die Äste zur Seite gebogen wurden und dann… stand auf einmal Elisabeth vor ihm.

,,Wo kommst du denn her? Was soll das?”, rief Philipp und merkte, dass sich sein Puls allmählich wieder beruhigte. ,,Ich suche euch”, sagte Elisabeth. Ihre Stimme klang merkwürdig ausdruckslos. Erst jetzt bemerkte Philipp, dass sie verändert aussah. Sie trug ein bodenlanges, weißes Kleid, keine Jacke und war offenbar barfuß. Ihre langen Haare waren offen und zerzaust, ganz so, als habe sie bereits einen längeren Weg durch den Wald hinter sich. Doch das war es nicht, was Philipp wirklich verstörte. Vielmehr schien von ihr ein seltsames Schimmern auszugehen. Leuchtete sie nicht sogar ein wenig im Dunkeln? ,,Komm, ich will zu den anderen”, sagte Elisabeth und ihre Stimme klang noch immer so ausdruckslos wie zuvor.

Philipp, noch immer verwirrt von der Begegnung mit Elisabeth, packte sie an ihrer Hand und die beiden suchten sich ihren Weg zurück zu den Anderen. ,,Bist du immer noch sauer auf mich? Was sollte eigentlich diese komische VoiceMail?” ,,Eh….”, Elisabeth zögerte einen Moment. ,,Hab viel um die Ohren im Moment, erzähle ich dir ein anderes Mal.”, wies sie Philipp ab und begrüßte alle Feierwütigen, die mittlerweile den Weg zu ihrem kleinen Rave gefunden hatten. Für Philipp schienen es Minuten gewesen zu sein, die die beiden im Wald waren. In Wirklichkeit war eine Ewigkeit vergangen, denn sowohl die DJs als auch eine Meute verkleideter Studierende tanzten ausgelassen zur elektronischen Tanzmusik. ,,Die meisten haben sich richtig reingehängt mit ihren Kostümen”, wandte sich Philipp zu Elisabeth um, doch die hatte sich wie in Luft aufgelöst. Stattdessen stand nun Ines vor ihm, mit fragendem Blick. ,,Wo zur Hölle warst du und wo sind die Fackeln? Ich dachte du wolltest sie aus dem Auto holen, die sollten eigentlich stehen, bevor die Leute kommen!” Verärgert machte sie sich auf durch den Wald, um die restlichen Sachen zu holen. Als Philipp um sich blickte, starrten ihn unheimliche Kreaturen an, darunter Halbtote, Hexen und Zombies. Bei einem Blick zur Bar sah er einen Kerl, dem ein Messer in der Bauchgegend steckte, das Blut lief unaufhaltsam an seiner Kleidung herunter. In Gedanken verloren näherte sich Philipp der Bar und realisierte, dass es sich bei dem Typen um Gregor handelte. ,,Philipp, komm her! Willst du auch ein Bier?”, entgegnete dieser mit ungewöhnlich rauher Stimme. Direkt wurde Philipps Aufmerksamkeit auf Gregors Mund gezogen: etwas war anders. Als dieser erneut begann, mit Philipp zu reden, bemerkte er, dass auch Gregor einen seiner Schneidezähne verloren hatte.

“Gregor, was ist mit deinem Zahn passiert, was zur Hölle läuft hier?”, stieß Philipp mit panischer Stimme aus. Gregors Blick war leer und das Blut lief weiter aus seiner Magengrube “Philipp, trink das Bier”, sagte er fordernd und streckte ihm eine Flasche entgegen. “Sag mir verdammt noch mal was hier los ist!” Philipps Stimme klang wütend und ängstlich zugleich. “Trink!”, zischte Gregor und rammte das Bier in Philipps Hand. Die Flasche zerbrach und Philipp lief Blut aus zahlreichen Wunden an der Hand. Völlig starr vor Schock blickte Philipp erst auf seine Hand und dann wieder zu Gregor, doch der war plötzlich verschwunden. Da tauchte Elisabeth auf und als sie das Blut auf dem feuchten Waldboden sah, fiel ihr Blick auf Philipps Hand, von welcher das Blut immer weiter auf das vom Mond beleuchtete Gras tropfte. Philipp stand noch immer wie versteinert mit der zerbrochenen Flasche in der Hand an der Bar und bemerkte nicht einmal, wie sich die Scherben immer tiefer in sein Handfleisch bohrten. Für ihn fühlte es sich wie ein kleiner Augenblick an, doch in Wirklichkeit wichen die Minuten wie Sekunden. “Philipp! Lass die Flasche fallen!” Elisabeths Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er ließ die Flasche zu Boden sinken. “Oh nein. Nicht du auch noch!”, murmelte Elisabeth, während sie ihm die Hand mit ihrem weißen langen Kleid abtupfte und ihn immer wieder anschaute, doch Philipps Blick war leer. Der tiefe Bass der elektronischen Musik, die tanzenden Leute, die Jungs und Mädels, die sich mit einem Bierschlauch ein Duell lieferten,  Elisabeth, die ihm die Hand säuberte, die Scherben entfernte und mit leiser, rauher Stimme vor sich hin redete. Das alles schien wie ein Film vor ihm abzulaufen. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. “Philipp, hey, steh auf!”, Elisabeth haute ihm auf die Wange. Philipp kam wieder zu sich und merkte, dass er auf dem Boden lag, etwas abgeschottet von den tanzenden Menschen, die von all dem scheinbar nichts mitbekamen. “Aaau!” keuchte Philipp und ein brennender Schmerz zog sich durch sein Gebiss.

Er tastete sein Gebiss ab und stellte fest, dass ihm ein Schneidezahn fehlte. Was war geschehen? Philipp konnte sich kaum erinnern. “Hey, was ist passiert?” fragte er schließlich Elisabeth. “Du musst wohl unglücklich gefallen sein”, meinte sie bloß. Philipp wusste zwar nicht mehr, was in den letzten Minuten und Stunden passiert war, aber eins wusste er ganz sicher – irgendetwas war faul an dieser Party und mit diesen Menschen. Elisabeth zog Philipp am Arm. “Komm wir müssen weg hier”, sagte sie, während er hinter ihr her stolperte. Als sie hinter den ersten Baumreihen verschwunden waren, spürte Philipp, dass sie nicht alleine waren. Jemand war ihnen gefolgt. Immer weiter liefen sie in den dunklen Wald hinein und je weiter sie kamen, desto mehr zog ein schier undurchdringlicher Nebel auf. “Elisabeth, wo laufen wir eigentlich hin?” wollte Philipp, der völlig aus der Puste war, wissen. Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. “Auf der Party war es nicht mehr sicher für dich”, erklärte sie, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. “Hä? Warum das denn? Was ist denn mit den Leuten? Warum verhalten sich auf einmal alle so seltsam?”

“Philipp, das ist nicht so leicht zu erklären, vertrau mir einfach und komm mit mir!” Er liebte Elisabeth, doch sie schien nicht mehr sie selbst zu sein. Trotzdem sagte ihm etwas in seinem inneren, dass er ihr folgen musste. Sie rannten und rannten und während der ganzen Zeit spürte er, dass ihnen jemand, vielleicht auch etwas, folgte. Er fragte Elisabeth erneut, wo zum Teufel sie hinrannten. “Wir müssen zurück in die Stadt, zur E-Kirche und jetzt spar’ dir deine Energie und renn’ schneller!” Philipp verstand überhaupt nichts mehr. Als Elisabeth nach Marburg gezogen war und ihn damals ansprach, weil sie neu in der Stadt war, war es sofort um ihn geschehen. Natürlich wollte er ihr Marburg zeigen, schließlich lebte er schon länger hier und die E-Kirche gehörte nun einmal zu Marburgs Touri-Programm. Doch in den zwei Jahren, in denen sie zusammen waren, hatte Elisabeth immer einen großen Bogen um die Kirche gemacht, sie betrat nicht einmal das Gelände, mehr noch wechselte sie dort sogar die Straßenseite. Den Grund hatte Philipp jedoch niemals erfahren.

Sie liefen aus dem Wald heraus eine steile Treppe hinunter und kamen gegenüber von der E-Kirche an der Straße heraus. Elisabeth hielt für einige Sekunden an und sagte: “Philipp du musst mir jetzt genau zuhören, es werden komische Dinge passieren und wir haben so gut wie keine Zeit, sie kommen schon.” Sie nahm ihn an seiner kalten, mit Blut verkrusteten Hand und riss ihn mit sich. Während der ersten Schritte auf der Plattform wurde es immer heller um Philipp. Er musste nach keiner Lichtquelle suchen, es waren er und Elisabeth, die so hell leuchteten, als wären hunderte von Scheinwerfern in ihren Hautzellen verarbeitet. In der Kirche angekommen schob sie einen dicken Balken vor das EIngangstor. “Du wirst mir danken”, sagte sie. Dann stellte sie sich vor den Hauptaltar und murmelte etwas vor sich hin. Es klang wie ein Gebet, aber er hatte das Gefühl, als ob sie mit jemandem sprechen würde. Er wusste nicht, dass sie an Gott glaubte, aber was wusste er denn schon von ihr? Das alles hier war so krank.

Endlich sprach Elisabeth wieder zu Philipp: “Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber du bist hier in meiner Kirche. Ich bin die heilige Elisabeth. Ich durfte diese Böden nie betreten, weil mein leuchten mich sofort verraten hätte!” Philipp lachte. Doch als er in ihr Gesicht sah, sah er, dass sie das ernst meinte. Philipp hatte so langsam das Gefühl, er werde völlig wahnsinnig. Doch sie erzählte weiter: “Die Stadt in der du lebst, Marburg, die Uni, das alles existiert zwar, ist jedoch seit Jahrhunderten von dunklen Mächten bedroht. Einige Ritter aus meinem Orden haben sich damals von uns abgewandt, sie wollten nicht mehr für das Gute in der Welt kämpfen, sie wollten sie zerstören. Sie begaben sich in Kreise der dunklen Magie und setzten einen Dämon in die Welt, der in die Menschen fährt und ihre Seelen auffrisst. Wir konnten ihn damals bannen, doch es scheint, als habe er einen Weg in die Freiheit gefunden. Den Opfern fallen die Zähne aus, ihre Gliedmaßen werden steif, ihre Haut wird so dünn wie Papier und schimmert im Mondlicht. Die Menschen werden zu unfassbar starken Kreaturen und das einzige, was sie antreibt ist  der wahnsinnige Durst nach Blut. Sie werden zu Monstern. Zombies. Doch mit der Befreiung des Dämons bin auch ich wieder zum Leben erwacht. Mein zu Staub zerfallener Körper setzt sich wieder zusammen…” Jetzt reichte es Philipp. “Du spinnst ja. Wir sind seit zwei Jahren zusammen, also ich habe da noch in kein Staub bei dir gefasst, was soll denn der ganze Mist?” “Deine Elisabeth gibt es nicht mehr, Philipp. Sie wurde gestern von deinem Freund Nico im Wald angegriffen.” Philipp erinnerte sich an die Voicemails. Erst war er geschockt, dann bemerkte er, dass dieses Mädchen vor ihm auch Nico erwähnt hatte und dann verlor er komplett die Sprache. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er denken, geschweige denn tun sollte. Schreien? Lachen? Weinen? In was für einem Theater befand er sich hier überhaupt? War das vielleicht alles ein Traum? Elisabeth, oder wer auch immer das da vor ihm war, ließ ihn keine Zeit, weiter nachzudenken. “Deine Freundin ist verreckt, Philipp, allerdings genau in dem Moment, als die Zusammensetzung meines Staub-Körpers abgeschlossen war. Der brauchte jetzt einen Körper. You see…”, sie blickte ihn vielsagend an, als sei damit alles geklärt. “Jetzt muss ich eine Person finden, die ein reines Herz hat und sich aufopfert, damit wir all das hier ein für alle mal beenden können. Und das bist du, Philipp!”

Philipp fing wieder lauthals an zu lachen. Das war nicht ihr ernst. “Bitte sag mir jetzt nicht auch noch, dass die Zombies gleich an der Tür kratzen und sie aufbrechen, nur weil wir beiden hier drin sind und sie uns fressen wollen?” “Doch.” “Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?” Elisabeth hielt ihm einen Dolch hin. “Dein Ernst? Ich soll mich erstechen? hättet ihr nicht ein bisschen kreativer sein können, als ihr euch diesen Scheiß eingebrockt habt? Mir diesen Scheiß  eingebrockt habt?” Philipp war stinksauer. Er wollte raus aus diesem Affentheater. Doch Elisabeth sagte nur: “Philipp du spürst das sowieso nicht mehr. Du bist selbst bereits ein Zombie. Das einzige, was an dir noch lebt, ist dein reines Herz. Du bist wie eine Hülle, die bald anfangen wird, komplett zu vergammeln, bis irgendwann nur noch dein Herz übrig bleibt und hinter dem sind die Monster her. Dieses zu zerstören ist das einzige, was sie aufhalten kann!” Philipp wurde so wütend, wie noch nie in seinem Leben. Er wollte losschreien, doch in diesem Moment brachen die Zombies die gewaltigen Tore der Elisabethkirche auf. Philipp wollte sich aber nicht umbringen! Außerdem glaubte er diesen Quatsch einfach nicht.

Währenddessen kamen die Zombies immer näher. Er spürte, wie sich etwas in ihm veränderte, sein Nacken knackste, seine Gelenke wurden steinhart. Elisabeth stand neben ihm, schrie in Richtung Philipp, doch Philipps Instinkte waren stärker. In seinem Kopf kreisten inzwischen zwei Gedanken hundertfach durch ihn hindurch: “Ich will ihr Blut! Ich will sie töten!” Elisabeth begriff langsam, dass sie sich den falschen Menschen ausgesucht hatte. Sie
bewegte sich langsam rückwärts und versuchte, zu entkommen. Doch es war zu spät. Während sie verzweifelt auf den Altar klettere, blickte Sie  in die Gesichter der nun zahlreich in das Gebäude rennenden Menschen, die bis eben noch auf der Waldlichtung getanzt hatten. Sie starrte in die leeren Augen, die zahnlosen Münder die klaffenden Wunden und die herausstehenden Knochen. Sie war nicht mehr in der Lage, noch irgendetwas zu sagen und dachte nur daran, dass sie jetzt wenigstens nicht noch einmal in diese furchtbare Welt musste. Sie ließ sich fallen. Philipp fing sie auf und machte sich gemeinsam mit den anderen über ihren hell erleuchteten Körper her. Sie rissen sie in Stücke und saugten ihr das Blut bis auf den letzten Tropfen aus. Dann schlug die Uhr zehn Mal und das Kirchenportal öffnete sich abermals…

FOTO: Giovanni Orlando auf flickr.com, CC-Lizenz

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