Oh mein Marburg

Oh mein Marburg

Wenn Marburg ein Film wäre, welcher wäre es? Ein Historiendrama? Ein Liebesfilm? Oder doch ein ARD-Familienepos? Wer den Freitagabend tatsächlich vor dem Fernseher verbrachte, durfte  Marburg im Ersten als romantisierende Kitsch-Kulisse erleben. Collagen der schönsten Altstadt-Ecken dienten im neuen Film „Besser spät als nie“ als Spielplatz für das klischeebelastete studentische Alltagsleben. Autorin Laura, die sich die Produktion bereits als Komparsin anguckte, zieht ein Fazit.

Es ist das Studieren in Marburg, das als der Lebenstraum schlechthin inszeniert wird: Die Midlife-Crisis kann – wie auch im Film dargestellt – auf unterschiedliche Art und Weise überwunden werden, ob nun mit neuem Segelboot und einer Affäre oder eben mit Alkohol. In diesem Fall gestaltet sich der Plot so: Protagonistin Catrin entscheidet sich für einen Sprung zurück ins Studileben. Die in Berlin sesshaft gewordene Mittvierzigerin, gespielt von Nele Mueller-Stöfen, verlässt Mann und Sohn, um ihr angebrochenes Medizinstudium zu Ende zu bringen. In Marburg wartet bereits die Tochter, die den Traum ihrer Mutter halbherzig auszuleben versucht und gleichzeitig die Mappe für ein Kunststudium bastelt.

Vom Penthouse in die Studentenbude

Gerade noch wird die schöne Kommode der Oma in die noch schönere Altstadt-WG in Nähe der Lutherkirche geschleppt und schon stehen Mutter und Tochter gemeinsam am Seziertisch. Wie zu erwarten, fällt es Catrin alles andere als einfach, in der Studentenstadt Fuß zu fassen und auch der in Berlin zurückgelassene Ehemann Frank (Jochen Horst) muss sich fragen, ob die Ehe durch den „wilden Ausbruch“ der Hausfrau komplett zerstört wurde. Untermalt wird die Ehekrise derweil durch die unermüdlich von ihrem Hometown Glory singenden Adele.

Aber nehmen wir den Fernseh-Schwindel mal nicht ganz so ernst, immerhin hatten wir mit Christoph Schnee einen waschechten Tatort-Regisseur in der Stadt. Vielleicht hat er dabei ja das Krimi-Potenzial erkannt und Marburg schafft es doch noch in den deutschen Fernsehkanon? Die Marburger*innen sind auf jeden Fall bereit, ihr Gesicht in die Kamera zu halten. Über 100 Kompars*innen wurden im Vorfeld zusammengetrommelt, um die Szenerie so richtig schön studentisch zu beleben. Da mussten schließlich Mensagänge, Unipartys, Vorlesungen und WG-Castings nachgestellt werden. Auch wenn hier und dort etwas gemogelt wurde.

So richtig abtanzen zu Bruno Mars

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es gar keine so leichte Aufgabe ist, hungrig in der Mensa vor einem halbvollen Teller zu sitzen und immer nur genau so wenig essen zu dürfen, dass es im nächsten Bild nicht zu Anschlussfehlern kommt. Genauso gemein die vermutliche Party-Szene: Das Weinglas gefüllt mit verdünntem Ginger-Ale und auch daran bitte nur nippen! Der krönende Abschluss einer nüchternen Party war dann wohl das Gezappel zu Bruno Mars – für die Kompars*innen ein Stopptanz ohne Musik. Verwunderlich erschienen aber vor allem andere Inhalte der Diegese: War es zum Beispiel wirklich notwendig, den WG-Bewohner und Neurobiologen Ben zu erfinden, der sich selbst durch Elektroschocks zum Nichtessen von bestimmten Speisen (Kuchen, Käse, …) zu konditionieren versucht und am Ende vor einer Schüssel Salat sitzt und sich selbst als Veganer bezeichnet? Diese Darstellung war leider weniger lustig als diskriminierend und peinlich. Weitere Dinge, die mir aufgefallen sind:

  1. Warum sollte man das Film-Equipment auf die Lahnberge schleppen, wenn es doch in der Stadtmitte so schöne alte Universitätsgebäude gibt? Das dachte sich wohl auch die Produktion und verlegte kurzerhand die medizinische Fakultät in die theologische.
  2. Wer am Abend Bock auf ein bisschen Kickern oder entspanntes Billard zu Reggae-Klängen hat, geht jetzt nicht mehr ins Roxy, sondern ganz offensichtlich ins Marley’s.
  3. Die Servicekräfte verdienen dort übrigens 870 € im Monat. Wer braucht denn noch Mindestlohn und Bafög, wenn das als Studierende in Marburg auch so easy klappt?!
  4. Zum Thema Kicker: Wer glaubt, die männlichen Darsteller wurden nach ihrem Talent zum Bälle-Rollen ausgesucht, irrt. Es gab tatsächlich Profitischkicker als Double.
  5. Das Lahntal als Surferparadies. Okay, ganz so verrückt ist die Idee vielleicht nicht, auch mal auf einem Stand-Up Paddle über die Lahn zu treiben, statt immer nur mit ollen Kanus oder Tretbooten. Aber dass man hier einfach aus der Stadt fährt und vor einem Baggersee landet, ist mir neu.
  6. Ein WG-Zimmer in der Oberstadt steht leer und Mutti kann mal eben nebenan einziehen in die 15qm² große Abstellkammer, die sonst ungenutzt ist. Ehrlich?
  7. Und die WG-Suche findet zwar bekanntermaßen auch häufiger mal in abgelegeneren Örtchen statt, aber eher selten muss man direkt zum Casting Fragebögen ausfüllen und in langen Schlangen vor der Haustür warten. Schufa-Auskunft, Mietschuldenfreiheitsbescheinigung, Einkommensnachweis, auch an alles gedacht?
  8. Ich studiere zwar nicht Medizin, aber eine Examensfeier à la Collegeabschluss mit Doktorhut und Talar kommt mir für Marburger Verhältnisse unwahrscheinlich vor.
  9. Die Mutter bandelt mit dem Mitbewohner ihrer Tochter an, diese hat eine Beziehung zu ihrem 38-jährigen Dozent. Sehr kreativ, das deutsche Fernsehen.

Die Moral von der Geschichte ist im Endeffekt wohl: Die Frau von heute darf dann doch noch irgendwie einen Traum neben dem Hausfrauen-Dasein ausleben. Aber natürlich nur, wenn der Mann da auch einverstanden ist. Immerhin durfte die Philipps-Universität ihren Namen beibehalten und somit wäre wohl auch für ein gutes Stadtmarketing gesorgt. Die nächste Generation Studierende kann also kommen!

ANGEGUCKT „Besser spät als nie“ wurde vom 16.9. – 19.10.2014  in Berlin und Marburg gedreht. Er ist eine Produktion der Wiedemann & Berg Television im Auftrag der ARD Degeto für Das Erste. Derzeit kann der Film noch in der ARD Mediathek kostenlos anschauen werden.

FOTO: Promo

Ein Gedanke zu “Oh mein Marburg

  1. Witzigerweise gibt es tatsächlich einen Baggersee bei Niederweimar, nicht weit südlich von Marburg, der zum Surfen benutzt wird. Also das ist nicht erfunden 😀
    Grüße, ein Marburger Jong

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