Sneak Review #95 – Lieber Leben

Sneak Review #95 – Lieber Leben

Ein Raunen geht durch die Menge, als auf der Leinwand neben einigen französischen Namen auch der seltsame Hinweis „Alle Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind keinesfalls zufällig“ über die Leinwand flimmert. Ein französisches Biopic? Das könnte anstrengend werden! Nur gut, dass Fabien Marsauds „Lieber Leben“ (Orginaltitel: „Patients“) nicht in diese Schublade passt.

Erst mal sehen wir gar nichts. Dann: ein paar flatternde Lider, gedämpfte Stimmen, grelles Licht und Atemgeräusche im Darth Vader-Stil. Die Schwester fragt den sich langsam erholenden Patienten später, ob er etwas sagen wolle. Benjamins (Pablo Pauly) Antwort ist „254“. Das ist keine streng geheimer Code, sondern die Anzahl der kleinen Quadrate in der büromäßigen Deckenlampe über ihm. Die Kombination aus Langweile und Humor wird in dieser ersten Szene schon deutlich und zieht sich durch den gesamten Film. Benjamin hat sich bei einem missglückten Sprung im Schwimmbad den Halswirbel gebrochen, muss seine Zeit gelähmt in einer Rehaklinik verbringen und hat eigentlich nur wenig zu lachen. Sollte man meinen.

Eine ungewohnte Herangehensweise…

Tatsächlich lernt er neue Freunde kennen und mit ihnen auch eine große Portion Optimismus. Regisseur und Drehbuchautor Fabien Marsaud verarbeitet mit dem Film eigene Erlebnisse. In Frankreich ist er seit seinem Schwimmbadunfall unter dem Künstlernamen „Grande Corpse Malande“ („Großer kranker Körper“) vor allem als Poetryslammer bekannt und hat nun erstmals, zusammen mit Mehdi Idir einen Film vorgelegt.

Dieser entfaltet wohl hauptsächlich aufgrund des biografischen Hintergrunds eine erstaunliche Wirkung. Hier gibt es kein rührseliges Betroffenheitskino sondern 110 Minuten knallharte Behindertenwitze. Statt auf die Tränendrüse zu drücken, werden alltägliche Situationen aus dem Leben eines querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrers so nüchtern erzählt, dass die Zuschauer fast schon das schlechte Gewissen packt, wenn sie überhaupt lachen. Wenn Benjamin etwa bei der täglichen Darmentleerung seinem Zimmergenossen zuraunt: „Ich habe mich dir noch nie so nah gefühlt. Endlich sitzen wir mal zusammen in der Scheiße“, wirkt das, ebenso skurril wie befreiend. Gleichzeitig wird in den vielen kleinen Alltagssituationen, die der Film beleuchtet, auch die absolute Hilflosigkeit der Patienten deutlich, ohne aber melodramatisch zu werden. Benjamin steckt fest, sobald die Batterie seines Elektrorollstuhls den Geist aufgibt und kann seinem lächerlich gut gelaunten Pfleger Jean-Marie (Alban Ivanov) nicht entkommen. Dieses Wechselbad aus Optimusmus und Resignation spielt Pablo Pauly mit spitzbübischem Charme und meistert souverän die anspruchsvolle Aufgabe, seelische und körperliche Anstrengungen eines Querschnittsgelähmten darzustellen.

… mit kleinen Schwächen

Leider hat der Film trotzdem vor allem im zweiten Teil deutliche Längen. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass eben nur einzelne Situationen und abgesehen von Benjamins langsamer Regeneration kaum eine wirkliche Geschichte erzählt wird. So soll wohl das relativ ereignislose Leben in einer solchen Klinik gespiegelt werden. Ein Kniff, der in einem Film, also einem Medium, das von Bildern und Handlung lebt, nur bedingt funktioniert. Auch wenn die Idee und die unkonventionelle Herangehensweise an dieses sensible Thema erfrischend neu sind, stellen sich nach Behindertenwitz Nummer 38 erste Ermüdungserscheinungen ein. Selbst eher dramatische Wendungen können ihr volles Spannungspotential nicht entfalten, weil dem Publikum einfach nicht genügend Zeit und zu wenig Information gegeben werden, um eine tiefere Bindung zu den Nebencharakteren aufzubauen. Für die kurzweilige Unterhaltung zwischendurch, ohne Kloß im Hals, dafür aber mit einigen Lachern auf der hohen Kante, sorgt dieser Film dennoch allemal.

„Lieber Leben“ kommt am 14. Dezember in die deutschen Kinos.

Foto: Neue Visionen Filmverleih

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