Theater Review #24: Die Verwandlung

Theater Review #24: Die Verwandlung

Die gleichnamige Erzählung von Franz Kafka aus dem Jahre 1912 feierte am 24. November 2018 Premiere im Hessischen Landestheater in Marburg. Unter der Regie von Brit Bartkowiak erzählten die Schauspieler:innen Artur Molin, Saskia Boden-Dilling, Mechthild Grabner, Jorien Gradenwitz, Zenzi Huber und Stefan Piskorz das Debakel des Protagonisten Gregor Samsa – und dessen Relevanz für unsere heutige Leistungsgesellschaft. Ob sich das Stück lohnt, erfahrt ihr hier.

„Was ist mit mir geschehen?“ Mit dieser mehrfach wiederholten Frage wacht Gregor Samsa, ein Handelsreisender und Tuchhändler, eines Tages in seinem Bett auf. Über Nacht scheint er sich in einen ungeheuerlichen Käfer verwandelt zu haben. Gefangen in dem kleinen Körper und unfähig zu sprechen, geschweige denn sich zu artikulieren, versucht er sich erst vor der Familie und einem Prokuristen, der wissen will, wann er denn jetzt zur Arbeit kommen würde, zu verstecken. Die Heimlichtuerei gelingt ihm allerdings nur kurz, da seine Familie bei einem Besuch in sein Zimmer kommt und ihn in seiner misslichen Lage wiederfindet. Aufgrund der Arbeitsunfähigkeit Gregor Samsas, der zuvor die Familie und vor allem seine Schwester Grete bei dem Violinenunterricht finanziell unterstützte, muss sich nun seine Familie um ihn kümmern. Da besonders die Mutter mit der neuen ungewohnten Gestalt Gregors nicht zurecht kommt, bringt seine Schwester Grete ihm regelmäßig die Nahrung und sorgt für ihn.

In seiner misslichen Lage versucht Gregor vorerst, Kontakt mit dem Prokuristen und auch der Familie aufzunehmen, wird sich allerdings schnell seines Sprachverlustes bewusst, da er nur noch Tierlaute von sich geben kann. Erschöpft und gestresst sieht er keinen Ausweg, erhofft sich aber zuerst noch eine Umwandlung zu seiner normalen menschlichen Gestalt. Bei einem Vorfall, bei dem seine Mutter ohnmächtig aufgrund seiner Gestalt wird, wird Gregor durch eine herunter fallende Medizinflasche sowie später in einem Streit mit seinem Vater durch geworfene Äpfel stark verletzt. Zunehmend wird Gregor durch die mit der Situation überforderten Familienmitglieder isoliert, welche sich letztendlich ein neues Leben ohne ihn aufzubauen versuchen.

Klasse Inszenierung mit viel Authentizität

Wunderbar inszeniert durch die wirklich großartige Leistung der Schauspieler:innen wird das Publikum in das Stück förmlich mit hineingesogen. Durch die eindringliche Mimik und Gestik sowie die sehr unterschiedliche Intensität des Sprechens, können sich auch die Zuschauer:innen schnell in die aussichtslose Stressituation des Protagonisten Gregor Samsas hineinfühlen. Im stetigen Wechsel werden die verschiedenen Rollen durch die Schauspieler:innen, die sowohl die Familienmitglieder, den Protagonisten, Erzähler:in und auch die innere und äußere Gefühlswelt Gregor Samsas darstellen, vorgetragen. Der Fokus liegt bei dieser Inszenierung eindeutig auf der schauspielerischen Darstellung, das Bühnenbild wird sehr schlicht gehalten und besteht gänzlich aus durchsichtigen Planen, die während des Stücks verschoben werden. Diese erinnern durch ihre Durchsichtigkeit an die Verletzlichkeit Gregor Samsas.

An dieser Stelle lässt sich noch einmal erwähnen, dass diese wirklich großartige Inszenierung auch kein aufwändiges Bühnenbild braucht – die Überforderung Gregor Samsas mit seiner neuen Situation geht genügend aus den wirren Stimmen, Gestik und Mimik hervor, welche auch die Zuschauer:innen in eine innere Unruhe bringen. Das Gegensatz-Paar aus kurzen Ruhemomenten und absoluten Stressmomenten zieht sich als eine klare Linie durch das gesamte Stück und fordert die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Gedankenkrise des Protagonisten wird auch durch den unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum an die Zuschauer:innen herangetragen, die sich hierdurch plötzlich nicht mehr als Betrachter:innen von „außen“ sehen sondern mit in das Gefühlswirrwarr involviert werden. Auch die Ansichten der Familie und die vorerste Unterstützung von Gregor werden durch eine Art „Live-Übertragung“ treffend dargestellt. Als Hintergrund auf die Planen übertragen, schweben die Zusprüche der Familie, die jedoch auch einen gewissen Druck ausüben, über dem davor stehenden Protagonisten, der sich zunehmend seines immer größer werdenden Kontrollverlustes bewusst wird.

Kafka und unsere Leistungsgesellschaft

Ein Stück, das überzeugend und treffend die Hektik – innerlich und äußerlich – unserer heutigen Zeit personifiziert.  Die Lage Gregor Samsas zeigt hier, wie stark wir Menschen doch unser persönliches Leben an gesellschaftliche Verpflichtungen und Zwänge orientieren und wie schnell ein Ungleichgewicht entsteht, sobald wir diesen nicht mehr stand halten können. Schon 1912 schuf Franz Kafka somit eine Prognose unserer heutigen Leistungsdruckgesellschaft, lang bevor der Begriff des „Burnouts“ in unserer alltäglichen Lebenswelt eine immer wiederkehrende Rolle spielte. Abhängig von den Anforderungen an uns selbst oder die anderer Personen, versucht jede:r mitzuhalten, bis er:sie sich auch gewissermaßen in der Rolle eines mittellosen Käfers wiederfindet: erschöpft und unfähig, noch etwas anderes als Stress und Hektik zu empfinden.

Die nächsten Aufführungen von „Die Verwandlung“ finden am 19.12. um 19:30 Uhr, 20.12. jeweils um 10 und 19:30 Uhr und am 08.01. und 10.01 jeweils um 19:30 Uhr statt. Weitere Infos zum Stück findet ihr hier.

Regie: Brit Bartkowiak
Bühne & Kostüme: Nikolaus Frinke
Musik: XELL.
Dramaturgie: Christin Ihle
Theaterpädagogik: Michael Pietsch

Besetzung: Artur Molin, Saskia Boden-Dilling, Mechthild Grabner, Jorien Gradenwitz, Zenzi Huber, Stefan Piskorz

FOTO: Hessisches Landestheater Marburg

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