Was bedeutet der Friedensnobelpreis 2015 für die Wissenschaft, Prof. Ouaissa?

Was bedeutet der Friedensnobelpreis 2015 für die Wissenschaft, Prof. Ouaissa?

Medizin, Physik, Chemie, Literatur, Frieden, Wirtschaft – für besondere Erkentnisse auf diesen wichtigen Gebieten werden alljährlich die Nobelpreise verliehen. Für Fachfremde ist es aber oftmals schwierig, zu verstehen, wofür die Preisträger*innen eigentlich ausgezeichnet werden. Der Träger des diesjährigen Friedensnobelpreises ist das tunesische Dialog-Quartett. Warum diese Organisation den Preis erhielt, erklärt für PHILIPP Prof. Dr. Rachid Ouaissa, Professor und Leiter des Centrums für Nah- und Mittelost-Studien des Fachgebiets Politik des Nahen und Mittleren Ostens.

PHILIPP: Warum hat das tunesische Dialog-Quartett dieses Jahr den Friedensnobelpreis erhalten?

Prof. Ouiassa: Ich finde das tunesische Dialog-Quartett hat im Prozess der Transition der Demokratisierung in Tunesien eine sehr wichtige Rolle gespielt und die Auszeichnung hat einen symbolischen Wert, nämlich dass die internationale Gemeinschaft diesen Prozess unterstützt. Konkret sind die ausgewählten vier Akteure, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Anwaltskammer und tunesische Menschenrechtsliga Akteure aus dem öffentlichen Leben, die absichtlich die politischen Akteure wie Parteien, die auch eine sehr konstruktive Rolle gespielt haben, herausgehalten haben, um die Rolle der Zivilgesellschaft zu betonen.

Warum wollen sie diese Rolle als Kraft aus der Zivilgesellschaft unterstreichen?

Wenn wir uns die unterschiedlichen Reformen und Transformationsprozesse anschauen, ist in Tunesien die öffentliche Sphäre eine der wichtigsten Akteure auch in den Umbrüchen gewesen. Die Proteste um die Revolution hat nicht die Opposition angefangen. Am Ende werden immer politische Parteien diesen Prozess weiterführen, aber ich finde es sehr wichtig, die Rolle der Zivilgesellschaft zu betonen, das heißt, diese Volksrevolution darf nicht von irgendeiner Partei instrumentalisiert werden. Wir hatten eine Phase – die im Übrigen nicht vorbei ist – in der sich die großen Parteien über die Verfassung gestritten haben, über die Rolle des Islam und der Religion etc., in der es den Eindruck erweckte, die Revolution ist jetzt gescheitert. Und in diesem Moment hat die Zivilgesellschaft gesagt, dass ihnen die Revolution durch diese ideologischen Machtkämpfe nicht weggenommen wird. Dies mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, ist ein wichtiges Zeichen. Das heißt nicht, dass die Ennahda oder die anderen Parteien keine Rolle gespielt haben. Beji Caid Essebsi und Rachid al-Ghannouchi haben sich oft getroffen, auch in Paris, und sich aufeinander zu bewegt, um eine stabile, gemeinsame Regierung zu bilden, um diesen Transformationsprozess weiterzuführen. Die muss man auch in diesem Zusammenhang erwähnen. Die Zivilgesellschaft hat Druck ausgeübt, damit die Parteien sich aufeinander zu bewegen. Die Situation ist noch nicht vorbei, denn die Regierung, die jetzt entstanden ist, ist auch nicht auf Dauer stabil. Zumal Essebsis Partei wie eine Front ist und jeden Tag riskiert, zusammenzubrechen. Da die Zivilgesellschaft international ermutigt und ausgezeichnet wurde, könnte diese Gruppe eine stabilisierende Rolle im Falle der Uneinigkeit der Parteien über den weiteren Transformationsprozess spielen. Auch im Zusammenhang der Anschläge in Tunesien, die das Land zu destabilisieren versuchen. Da ist die Zivilgesellschaft sehr wichtig, insofern finde ich den Preis berechtigt.

Im Dialog-Quartett sind sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeberverbände vertreten. Eigentlich stehen sich diese Fraktionen im politischen Spektrum gegenüber. Wie ist diese Zusammenarbeit zu bewerten?

Das ist eine interessante Frage. Ich habe viel mit Tunesiern und tunesischen Abgeordneten zu tun, die in politischen Parteien organisiert sind und gleichzeitig in Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden mitwirken. Was mich fasziniert hat, ist, dass sie Deutschland als Modell nehmen. Und in Deutschland ist diese Gegenüberstellung nicht so gravierend, wie in anderen Ländern, Frankreich zum Beispiel. Das finde ich sehr interessant bei den Tunesiern, dass sie sich das deutsche Modell anschauen, auch bei den Tarifen. Der Staat hält sich zurück, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen sich einigen. Was in Frankreich zu monatelangen Streiks führt, hat in Deutschland eine Art Zwang, dass sich die beiden Fraktionen zusammensetzten und die Fronten nicht so verhärtet sind, woran sich die Tunesier ein Beispiel nehmen. Wenn wir die Revolution als ein Kampf zwischen Arbeitnehmer und Gewerkschaften begreifen wollen, ist es schon seltsam, dass die beiden an einem Tisch sitzen. Ich habe das aber nicht so als Klassenkampf wahrgenommen. Mehr verlieren beide Fraktionen wenn das Land instabil ist. Ich glaube, dass gerade das, was in Ägypten passiert und vor 10 Jahren in Algerien passiert ist, schon ein Antrieb für die beiden großen Vertreter der Gesellschaft war, sich zusammenzusetzen und sich ihr Tunesien nicht wegnehmen zu lassen. In einem instabilen Land mit Terror aus Libyen oder anderen Ländern haben beide Fraktionen verloren. Das haben sie, glaube ich, kapiert.

Das Dialog-Quartett wurde vor ca. zwei Jahren gegründet. Ist es ungewöhnlich für eine solche junge Organisation, diesen Preis zu erhalten?

Ich glaube, die Überraschung war groß. Ich habe den Eindruck, und das bestätigen mir auch Menschen, die kurz danach in Tunesien waren, dass die Euphorie über diesen Preis relativ schnell vorbei war. Wie gesagt, die politische Situation ist schon komplex und fragil, sodass dieser instabile Moment von vor ywei Jahren immer wieder zurückkehren kann. Ich habe den Preis so verstanden, dass die Jury in Oslo das tunesische Volk belohnen wollte. Ich denke, dass die Friedensnobelpreise immer im Vergleich gegeben wird. Wir erinnern uns an Obamas Preis, der verliehen wurde, weil Bush nicht mehr da war, also im Prinzip ohne irgendeine Vorleistung. De facto da das Alte nicht mehr da ist, hat man das Neue belohnt, ohne irgendwelche erbrachten Leistungen. Da in vielen Ländern des Nahen Osten Krieg herrscht, im Jemen, in Syrien; in Ägypten gab es einen Putsch und quasi bürgerkriegsähnliche Zustände; hat man das tunesische Volk ermutigen wollen und symbolisch dem Dialogquartett den Preis verliehen. Und warum sollte man nicht eine junge Organisation auszeichnen? Das ist Ermutigung, weiterzumachen.

ZUR PERSON: Prof. Dr. Rachid Ouaissa ist seit 2009 Leiter des Lehrstuhl Poltik des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mitteloststudien an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf Frieden und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten.

FOTO: Chris Belsten auf flickr.com, CC-Lizens

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