Bahnhofsbrücke MarburgBild: Rebecca Größ-Ahr
„Halte dich nachts bloß von den Lahntreppen fern“ – einer der ersten Ratschläge, die junge Frauen bei ihrem Umzug nach Marburg bekommen. Obwohl Marburg tendenziell als sicheres Pflaster gilt, bleibt es auch hier nicht aus, dass Meldungen über Übergriffe oder Tipps zum Vermeiden bestimmter Orte genauso zur Normalität geworden sind wie in jeder anderen Stadt. Es ist auch ein ungeschriebenes Gesetz, abends lieber ein Taxi zu nehmen und dass ab einer gewissen Uhrzeit am Wochenende an bestimmten Ballungspunkten mit betrunkenen und pöbelnden Gruppen gerechnet werden kann.
Doch eins fällt auf: Immer, wenn eine Warnung ausgesprochen wird, immer wenn Gruppen sich pöbelnd versammeln, wird deutlich, dass es sich hier um eine klare Geschlechterteilung handelt. Frauen werden meist vor Männern gewarnt. Vor ihren eigenen Kommilitonen, die sich nach ein paar Bieren in ihren Rudeln von einer ganz anderen Seite zeigen. Vor 16-Jährigen, die mit einem Hinterherpfeifen ihren Kumpels zeigen wollen, wie kühn sie doch sind. Zusätzlich glänzt Marburg mit falscher Sicherheit – ständig bemüht, die Harmlosigkeit der eigenen Stadt zu unterstreichen. Häufig sind die Straßen eben gerade so dünn mit Personen besiedelt, dass Frauen sich nicht allein genug fühlen, um sich in Sicherheit zu wiegen, aber nicht in ausreichender Gesellschaft, um im Notfall Zeugen zur Hand zu haben. Der Schlüssel zwischen den Fingern wird schnell zu einem Accessoire, so selbstverständlich wie das Pfefferspray in der Tasche. Der betrunkene Typ, der dich auf dem Heimweg von der Bar belästigt hat, wird eine Anekdote, die humoristisch nacherzählt wird, um zu vergessen, wie besorgniserregend die Begegnung doch war. „Nochmal Glück gehabt“, wird gedacht, „Ich hätte auch nicht allein laufen sollen.“
Kein Licht am Ende des Tunnels
Denn genau das unterscheidet die Geschlechter in ihrer Sorge. Statistisch betrachtet werden Männer wesentlich häufiger Opfer körperlicher Gewalt, Raubs oder Raubmords an öffentlichen Orten als Frauen. Tatsächlich ist dies sogar der Ort, an dem Männer am häufigsten Opfer von Gewalt werden – meist durch männliche Täter. Frauen hingegen erleben körperliche Gewalt überwiegend in ihrem eigenen Haushalt. Tötungen durch den (Ex-)Partner sind weltweit die häufigste unnatürliche Todesursache bei Frauen. Doch welche Sorgen haben Personen, wenn sie nachts ihren Weg in Richtung Bahnunterführung einschlagen? Männer haben demnach häufig Sorgen vor Raub und Frauen haben Angst vor sexuellem Übergriff durch den Fremden, vor dem sie schon seit ihrer frühen Kindheit gewarnt wurden. Diese Sorge vor dem Eintritt in einen Angstraum, sorgt bei Frauen nicht nur für eine konstante Anspannung, sondern auch für eine zusätzliche finanzielle Belastung: Mehr benötigte Mittel für Taxikosten, Selbstverteidigungskurse oder andere Sicherheitsvorkehrungen.
Stagnation seit den 90ern
Für die Entwicklung effektiver Maßnahmen zur Bekämpfung von Angsträumen ist eine detaillierte Analyse einzelner Orte unerlässlich. In den 1990er Jahren wurden in vielen deutschen Städten Umfragen zum Sicherheitsgefühl von Frauen in öffentlichen Räumen durchgeführt, so auch 1994 in Heidelberg. Dabei gaben 88 % der Frauen an, besonders wachsam zu sein, wenn sie alleine unterwegs sind, während 83 % bereit sind, Umwege in Kauf zu nehmen. Ganze 58 % der Befragten verzichten gänzlich darauf, auszugehen, wenn sie sich nicht absehen können, ob sie sicher nach Hause kommen. Darüber hinaus sind 48 % bereit, für eine Taxifahrt zu zahlen, um kein Risiko einzugehen, und 36 % meiden es, abends und nachts allein unterwegs zu sein.Auch in Marburg wurde 1998 eine ähnliche umfassende Untersuchung zum Sicherheitsempfinden durchgeführt. Von 558 befragten Personen gaben knapp 80 % an, mindestens einen Angstraum in der Stadt und 37 % mindestens einen an der Philipps-Universität zu haben. Als unsicher empfundene Orte wurden Rad- und Fußwege entlang der Lahn, die Umgebung der Mensa, Unterführungen sowie Parkhäuser und -plätze genannt.
Das Projekt Einsicht – Marburg gegen Gewalt führte von 2014 bis 2017 fünf weitere Untersuchungen zum subjektiven Sicherheitsempfinden durch. Diese Studien befassten sich mit der erneuten Identifizierung von Angsträumen, den spezifischen Merkmalen dieser Orte und den allgemeinen Einflüssen auf die Kriminalitätsfurcht in Marburg. Daraufhin unterzeichnete die Stadt Marburg die „Marburger Erklärung gegen Gewalt“. Auf der Website sind die polizeilichen Kriminalstatistiken der Stadt von 2017 bis 2020 verfügbar, um zu zeigen, dass Marburg keine Stadt der Angsträume und Gewalt sein will. Die Stadt lobt sich auf ihrer Homepage mit den Worten: „Die Universitätsstadt Marburg ist für vieles bekannt. Sicherlich nicht dafür, eine Gewalthochburg zu sein.“
Den Schlüssel fest in der Hand
In Gesprächen mit zwei Marburgerinnen wird nochmal deutlich, wie viel Raum und Umstände die Vermeidung bestimmter Räume in Anspruch nimmt.
„Zur Dämmerungszeit meide ich den Südbahnhof und Hauptbahnhof nach Möglichkeit oder betrete sie zumindest nicht allein. Auch die Lahntreppen, den Rudolphsplatz und die Brücke dazwischen gehe ich ungern allein entlang. Falls doch, halte ich den Schlüssel bereit und bevorzuge das Fahrrad anstatt zu Fuß. Des weiteren meide ich abends allein die Benutzung der Aufzüge.“ anonym, bereinigtes Zitat
„Nachts meide ich die Ecke am Kaffeekästchen und auch allein die engen Oberstadtstreppen, da man dort nicht leicht entkommen kann und nicht sieht, wer dort ist. Auch den Tunnel bei der PhilFak habe ich immer gemieden. Obwohl ich keine besonderen Vorkehrungen getroffen habe, habe ich manchmal so getan, als würde ich telefonieren, und natürlich auch den Schlüssel in die Hand genommen.“ anonym, bereinigtes Zitat
Call me LiSA
Es wird deutlich, dass die Stadt Marburg mehr tun muss, um das Sicherheitsgefühl von Menschen zu verbessern, die von patriarchaler Gewalt bedroht sind. Nach wiederholten Angriffen und einem Raubüberfall mit sexuellen Übergriff auf eine Studentin im Jägertunnel im Jahr 2016 wurde 2018 dort das Kamerasystem LiSA eingeführt. Dieses System kann bei Bedarf aktiviert werden und macht sowohl Bild- als auch Tonaufnahmen, verbunden mit einer Notruffunktion. Ist dies ein gut gemeinter Beginn einer feministischen Sicherheitspolitik oder nur ein weiteres Gadget zur Profilierung der Stadt, um das Rating als sicheren Wohnraum zu festigen?
Abschließend gilt es für die Stadt Marburg, wie vielerorts, ganzheitliche Ansätze zu entwickeln, die nicht nur auf technologische Lösungen oder nette Worte setzen, sondern auch strukturelle und gesellschaftliche Veränderungen anstreben, um das Sicherheitsgefühl aller langfristig zu stärken.
LiteraturempfelungFeminist City: Wie Frauen die Stadt erleben Leslie Kern, 2024
FachliteraturRaum Macht Geschlecht: Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen RaumRenate Ruhne, 2011
Dieser Artikel konzentriert sich auf Frauen, da er auf Daten und Statistiken beruht, die ausschließlich binäre Kategorien berücksichtigen. Leider ist die verfügbare Datenlage für andere Gruppen, die von patriarchaler Unterdrückung betroffen sind, bisher sehr begrenzt. Obwohl sie in diesem Artikel nicht ausdrücklich genannt werden, sind Gruppen, die häufig Gewalt erfahren, wie queere Menschen und BiPOC, aufgrund ihrer äußeren Erscheinung potenzielle Opfer von Gewaltverbrechen in öffentlichen Räumen und teilen viele Sorgen rund um Gefahrenzonen.