in Marburg

Gruppe GegenSatz – Alte weiße Männer und der böse Staat?

By Annabell Sent

May 25, 2023

Mittwoch, der 21.04 – Mist, nur noch zwei Minuten. Ob ich das schaffe? Also hetze ich ins Hörsaalgebäude, suche den Raum. Die Tür steht offen, ein Mann Mitte/Ende 60 steht davor und klebt einen Zettel an die Tür: Gruppe GegenSatz, 19 Uhr, Diskussionsrunde. Ja, hier bin ich richtig. Als ich den Raum betrete fällt sofort auf: Ich bin hier eine der allerjüngsten, der Altersdurchschnitt liegt bei geschätzten 65 Jahren. Nur drei, vier andere jüngere Leute, vielleicht auch Studis, sind da, der Rest: zu zwei Dritteln alte weiße Männer. Keine BPOCs, kaum Frauen. Na gut, denke ich und setze mich relativ weit vorne in eine der Sitzreihen des kleinen Hörsaals. 

Worum geht es eigentlich? 

Ich habe im Vorhinein versucht, etwas über die Gruppe GegenSatz herauszufinden. Die beipackzettelähnliche Leseprobe half mir nur bedingt weiter. Darin ging es viel um den Angriffskrieg auf die Ukraine, dieser wurde aber nicht als solcher benannt. Der Westen wurde als Kriegstreiber, teilweise auch als Kriegsverursacher dargestellt. Putin als eigentlicher Grund für den schrecklichen Krieg wurde mit keiner Silbe erwähnt. Außerdem war von einem „rücksichtslosen Verteidigungskrieg“ der Ukraine die Rede. Ich finde diese Wortwahl in sich paradox und geradezu absurd. Die Gruppe als ‚prorussisch‘ zu bezeichnen, traue ich mich aber noch nicht so recht, denn dazu habe ich noch zu wenig gelesen. Aber eine Abneigung gegen den Westen und Amerika ist auf jeden Fall deutlich herauszulesen. 

Aller Anfang ist – schwurblerisch?

Schließlich setzen sich zwei Herren vor das Plenum, mit weißem Haar und karierten Hemden. Die Leute im Raum werden immer leiser, das Gewusel hört auf. Es ist das gleiche Gefühl wie früher im Klassenzimmer, wenn Lehrer:innen erwartungsvoll in die Runde schauten und alle merkten: „Oh, jetzt sollte ich ruhig sein.“ Schließlich leiten die beiden Herren in die Diskussion ein, es soll um Die letzte Generation und den Klimawandel gehen. Wer denn die Diskussion beginnen wolle, fragt einer der Männer in die Runde. Hätte er geahnt, was er mit dieser Frage lostritt, hätte er die Debatte wahrscheinlich lieber selbst eingeleitet.

In der letzten Reihe des Saals erhebt ein Mann in den Sechzigern die Stimme und beschwert sich, dass man, bevor man über die Letzte Generation sprechen könne, erst einmal klären sollte, ob es den Klimawandel überhaupt gebe. Ein Raunen und Seufzen geht durch die Reihen, ich verdrehe die Augen. Der Mann redet sich schnell in Rage, wird immer lauter und aufgebrachter: Der Klimawandel sei eine Lüge, es gäbe keine wissenschaftlichen Beweise, genauso wenig für Corona! Irgendwann reicht es auch den älteren Leuten vor mir, die außer sich nach hinten brüllen, er solle doch endlich aufhören, man wolle jetzt RICHTIG diskutieren. Nach etlichen Wortgefechten und weiteren kruden Ausführungen des Mannes beruhigt er sich endlich. Kurzzeitig sah ich mich schon einen Krankenwagen rufen, weil der Diskutant in der letzten Reihe mit hochrotem Kopf und Schnappatmung wirkte, als sei er kurz vor einem Herzinfarkt. Nachdem sich alle wieder gesammelt hatten, konnte es nun wirklich losgehen. Eine Frage blieb allerdings hängen: Was hat die Gruppe GegenSatz an sich, dass Leute wie er, hierherkamen? Irgendetwas müssen sie vertreten, das ihm vermittelt hatte, er wäre hier mit seinen Schwurbler-Theorien gut aufgehoben – nur was? 

Jetzt aber wirklich

Zum Start der Diskussion werden Zitate von Politiker:innen vorgelesen, die Grundlage der Debatte sein sollen. Vornehmlich findet man Grünenpolitiker:innen auf dem Zettel, so zum Beispiel ein Zitat von Robert Habeck:

„Am Ende braucht ein politisches Ziel in einer Demokratie eine Mehrheit. Und dabei helfen Protestformen, die verärgern, nicht wirklich… Hier erleben wir eine Radikalisierung der Wenigen. Das ist schlecht… Wer Klimapolitik aus einer Minderheitenposition heraus betreiben muss, hat schon verloren.“ 

Zunächst habe ich den Eindruck, die Kritik an den Zitaten beziehe sich darauf, dass Politiker:innen zu wenig für den Klimaschutz tun und die Protestierenden nicht ernst nehmen. Nach und nach kommt allerdings immer mehr durch, dass es gar nicht um den Klimaschutz oder die Protestierenden geht. Vielmehr geht es darum, die Zensur in den Vordergrund zu stellen, die die Protestierenden vermeintlich durch ‚den Staat‘ erfahren. Auch die anderen Zitate zielen darauf ab hervorzuheben, inwiefern die Politik Bürger:innen in ihrem Protest nicht ernst genug nimmt und ihnen den Mund verbieten möchte:„Protest darf nicht eine Änderung der Sache als Ziel haben, sondern nur den Apell dazu.“ (Winfried Kretschmann auf bw24.de, 09.11.2022)

Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass man durchaus Kritik daran üben kann, wie die Politiker:innen über Proteste reden. Denn gerade das genannte Zitat erscheint paradox – Protest soll verärgern und aufrütteln und hat natürlich eine „Änderung der Sache“ als Ziel. Wieso sonst sollte man auf die Straße gehen? Allerdings bekommt das Ganze einen faden Beigeschmack, wenn man sich zum Beispiel Artikel der Gruppe GegenSatz zur Coronapolitik genauer ansieht. Ich habe in einem Probeexemplar, das ich nach der Veranstaltung mitnehmen konnte, ein wenig quergelesen und am Ende eines Absatzes zur Coronapolitik folgenden Satz gefunden: 

„Die Berufung aufs medizinisch Vernünftige baut also nicht darauf, dass es zwischen Regierung und Volk doch wenigstens in diesem Ausnahmefall einmal um wissenschaftliche Erkenntnis gehen könnte, sondern reklamiert einen guten Grund für die Vorschriften der Staatsmacht.“

Zur Einordnung: Vor diesem Abschnitt geht es darum, wie die Politik durch Kontaktbeschränkungen mit der Coronapandemie umgegangen ist. Die Gruppe GegenSatz schreibt hier von „Indoktrination“, Freiheitsberaubung und einer „Obrigkeit“, die nicht auf der Basis von Vernunft und Wissenschaft handle. Ich glaube, jetzt versteht man eventuell schon besser, wieso der aufgebrachte Schwurbler seinen Platz in der Diskussionsrunde fand und auch, wieso es der Gruppe wohl sehr wichtig war zu betonen , wie sehr der Staat ihrer Meinung nach Proteste und die Meinung ‚des Volkes‘ unterdrücke. Da einige dem Schwurbler vehement widersprochen haben, glaube ich nicht, dass alle Anwesenden am menschengemachten Klimawandel zweifeln. Allerdings könnte es durchaus einige geben, die wissenschaftliche Erkenntnisse und Fakten anzweifeln. Interessant finde ich jedenfalls, dass – sollte meine Annahme richtig sein, dass die Veranstalter die Zensur durch die Politik deutlich machen wollten – der Plan aufgegangen ist: Eine Frau, die neben mir saß und den Eindruck machte, als wäre ihr Klimaschutz sehr wichtig, sprang direkt auf die Kritik an den Politiker:innen an. Unter dem Vorwand, die Klimapolitik zu kritisieren, hatte es die Gruppe also durchaus geschafft, Unmut gegenüber dem Staat und dem Umgang mit Protesten zu schüren. Wobei es meiner Meinung nach mitnichten um Die letzte Generation oder den Klimaschutz ging. 

(Lektoriert von jok und hab.)