in Marburg

Kaltbaden in Marburg: Wie meine Skepsis fast im Eis versank

By Rebecca Größ-Ahr

November 21, 2023

Zugegebenermaßen war ich anfangs sehr skeptisch, als ich von Eis- und Winterbaden hörte. In einer Welt, die ständig nach neuen Trends und Selbstoptimierungs-Ritualen sucht, schien es mir nur eine weitere absurde Idee zu sein, die keinen wirklichen Nutzen hat. Von Influencern und Influencerinnen wie Hailey Bieber wird es als die ultimative Herausforderung für Körper und Geist gepriesen, eine Methode zur Steigerung der Energie und, laut Bieber, sogar zur Verbesserung der Gesundheit. Doch ehrlich gesagt, wirkte es auf mich eher wie ein Sinnbild der westlichen Neuzeit, in der die Menschen beginnen, sich nach urtümlichem Leid zu sehnen. Wie es das Schicksal wollte, fand ich mich dennoch eines milden Spätwintermorgens am Ufer der Lahn wieder, bereit, meine Überzeugungen auf die Probe zu stellen.

Kaltwasserschwimmen ist ein umfassender Begriff für das Schwimmen in kaltem bis eiskaltem Wasser, während der Begriff Winterschwimmen speziell darauf hinweist, dass es sich um die Winterzeit handelt. In Ländern mit kälterem Klima kann dies gleichbedeutend mit Eisschwimmen sein, insbesondere wenn das Wasser gefroren ist. In den letzten Jahren hat sich das Eisschwimmen, definiert durch Temperaturen unter 5 °C, zu einem Ganzjahressport entwickelt. Viele Schwimmerinnen und Schwimmer nehmen regelmäßig an lokalen und internationalen Veranstaltungen teil, um sich zu messen. Die Praxis des „Ice Plumbing“ ermöglicht es, sich in eine mit Eiswasser gefüllte Wanne zu begeben. Diese Aktivität hat sich auch außerhalb von Wettbewerben verbreitet und wird kommerziell in den USA für den Gebrauch zu Hause oder in Wellness-Oasen angeboten.

Wirklich vorbereitet war ich nicht. Ein Handtuch hatte ich dabei, das war es auch schon. Ich war mit einer Gruppe von Eisbadenden verabredet, die sich regelmäßig zu einer Runde kollektiven Frieren treffen. Einer von ihnen war Alex, der Gründer der Marburger Eisbade-Gruppe Hot As Ice.  In einem anschließenden Interview in einem beheizten Café erzählte er mir von seinem Werdegang.

Vor mir saß ein selbstbewusster junger Mann, der vor Energie nahezu sprudelte. Alex hat Physik studiert, aber nie in diesem Bereich gearbeitet. Nach einer Angststörung und dem gescheiterten Plan, in den USA als Personal Trainer zu arbeiten, beendete er sein Studium. In München gründete er zwei Start-ups und entdeckte dabei seine Leidenschaft für das Eisbaden, beeinflusst durch den niederländischen Extremsportler Wim Hof. Durch diesen wurde sein Interesse an dem Kaltbaden geweckt und schnell wollte er die gepriesene Katharsis am eigenen Leib spüren. „Aus einer Challenge heraus, ich mag Challenges ”, erzählte er mir. Mit diesem Gedanken bewaffnet machte er sich auf zu der Isar in München. Mit der Hoffnung, hiermit seiner pathologischen Angst den Kampf anzusagen. Jedoch war das Wasser nicht wirklich tief genug. „Ich hab‘ versucht, mich reinzusetzen, das ging nicht. Fuck, ok, dann leg‘ ich mich halt rein, aber die Isar hat eine starke Strömung, ich konnte nicht mehr atmen und bin dann raus, war total durchgefroren und zu Hause hatte ich dann grippeähnliche Symptome”, erinnerte er sich.

Dann hat er nochmal angesetzt, sich über kaltes Duschen vorgearbeitet und es dann wieder versucht und verstanden: Darum geht es. Zuerst ist er alleine in die Kälte, dann irgendwann mit einem Kumpel, der hat dann Menschen mitgebracht und so wurden es immer mehr. Nach zweieinhalb Jahren wollte er etwas anderes und ist raus aus München.Alex erklärte mir, dass Eisbaden nicht nur eine körperliche, sondern auch eine mentale Herausforderung ist. Es geht darum, die eigene Komfortzone zu verlassen, die Angst zu überwinden und die Kontrolle über die Atmung zu behalten. Er schwärmte von der Euphorie, die er nach jedem Eisbad spürt, und wie es ihm hilft, klarer zu denken und fokussierter zu sein. Auch wenn das schnell süchtig machen kann, wie er es schon an eigenen Leib erlebt hat.

Nun näherten wir uns der Lahn. Mir war jetzt, voll bekleidet, schon kalt. Alex gab mir einige Tipps, wie ich mich vorbereiten sollte: langsam und tief atmen, ruhig bleiben, nicht zu lange im Wasser verweilen und mich danach schnell trocknen und aufwärmen. Er sagte, dass es normal ist, zu zittern und dass die Atmung sich eventuell kurz stark beschleunigen wird, aber dass ich auf meinen Körper hören und aufhören sollte, wenn ich mich unwohl fühle.

Mit diesen Hinweisen im Kopf ging die Gruppe ins Wasser. Es war, wer hätte es gedacht, eiskalt. Meine Haut brannte und meine Muskeln zogen sich zusammen. Alex hatte mich jederzeit im Blick und sprach mir Mut zu. Es war ein Schock, aber auch eine Art Befreiung. Nach einer Weile entschieden sich meine Schwimmkameraden nacheinander dazu, aus dem Wasser zu steigen. Jedoch wollte ich diesen Moment noch voll auskosten und die Euphorie im kühlen Nass weiterhin genießen. Irgendwann wandte sich Alex, der als Letzter mit mir im Wasser war, ruhig aber bestimmt an mich: „Wir gehen jetzt aus dem Wasser. Du solltest nicht zu lange bleiben, sonst könnte es dir in den nächsten Tagen nicht gutgehen.“

Doch wie ist es, Eisbaden in Marburg zu praktizieren? Alex erzählte mir in unserem Interview bei einer Tasse Kaffee, dass die Gruppe durch ihn als Initiator 2022 entstand, nachdem er aus München zurückgekehrt war. Er wollte seine Leidenschaft für das Eisbaden mit anderen teilen und eine Community aufbauen, die sich gegenseitig unterstützt und motiviert. 

Die Resonanz war überraschend positiv. In kurzer Zeit wuchs die Gruppe auf 53 Mitglieder an, die sich unterschiedlich oft zum Eisbaden treffen. Die Gruppe sei sehr bunt und vielfältig, erzählte Alex, es seien Menschen jeden Alters, Geschlechts und Hintergrunds dabei. Einige sind schon erfahren im Eisbaden, andere sind absolute Neulinge, die es einfach mal ausprobieren wollen. Er bietet ihnen eine Einführung und ein Coaching an, um ihnen die Angst zu nehmen und die richtige Technik zu zeigen.

Das Eisbaden bietet nicht nur physische, sondern auch psychische Vorteile, nimmt Alex an. Denn er vermutet, dass es Menschen, während der Covid-19-Pandemie geholfen hat, die in dieser Zeit mit Depressionen und Einsamkeit zu kämpfen hatten. Das gemeinschaftliche Erlebnis und die Freisetzung von Endorphinen, die als Mittel zur Bewältigung depressiver Phasen dienen, werden laut Alex schon lange in den USA als eine unterstützende Therapieform betrachtet.

Durch das gezielte Erleben unangenehmer und schockierender Situationen könne Resilienz aufgebaut und sich so auf zukünftige emotionale Herausforderungen vorbereitet werden. Das Loslassen des kurzzeitig auftretenden Schmerzes beim Eintauchen ins Wasser ist entscheidend, auch wenn dieser anfangs intensiv sein kann. Mit der Akzeptanz werde der Schmerz erträglicher. Mentales Training spiele hierbei eine Rolle, indem man nicht immer gegen alles ankämpfe, sondern auch lerne, loszulassen.

Angst entsteht laut ihm durch Gedanken, die beim Eisbaden durch die Fokussierung auf die Kälte schwinden. Im Eisbad lerne man, im Moment zu sein und die Gedanken abzuschalten, da der Körper mit der Kälte beschäftigt sei. Er fragte mich: „An was hast du gedacht, als du im Wasser warst?“ Als ich mich zurückerinnerte, merkte ich: an nichts. Mein Körper war mit dem Ausgleich der Kälte beschäftigt, für Zukunftssorgen und Weltschmerz war hier tatsächlich keine geistige Kapazität übrig.

Alex rät, vor dem Eisbaden gesundheitliche Aspekte zu berücksichtigen. Personen, die sich nicht fit fühlen oder Herz-Kreislauf-Probleme, Epilepsie oder andere Erkrankungen haben, sollten vorher Rücksprache mit ihrem Arzt halten. Es besteht die Möglichkeit von Hyperventilation oder einem Kälteschock beim Eintauchen, daher ist Vorsicht geboten. Obwohl in seiner Gruppe bisher nichts passiert ist, betont er die Wichtigkeit, auf den eigenen Körper zu hören und aufzuhören, wenn es zu viel wird. 

Winter- und Eisbaden hat in den letzten Jahren an Popularität gewonnen und wird als Trend gepriesen, doch ist diese Praxis so wohltuend, wie behauptet wird, oder ist sie nur ein weiterer Ausdruck der modernen Selbstoptimierung, die uns dazu drängt, immer mehr zu leisten, zu verbessern und zu kontrollieren?

Auch aus eigener Perspektive sollte diese Praktik kritisch betrachtet werden, genutzt als eine Art Selbstbestrafung, die von den eigentlichen Bedürfnissen ablenkt. Statt den inneren Widerstand zu verstehen und zu akzeptieren, wird er bekämpft, indem sich extremen Reizen ausgesetzt wird. Einige Enthusiast*innen scheinen dies zu nutzen, um die effizienteste Version ihrer selbst zu werden, indem sie sich an die Grenzen des Erträglichen bringen. Oft wird das Baden auch mit Diäten und Atemtechniken kombiniert, um das Kontrollbedürfnis über die eigenen körperlichen Reaktionen zu verstärken. Wim Hof, ein viel verehrter Vertreter dieser Praktik, hat mehrere Kälterekorde gebrochen, darunter fast zwei Stunden im Eiswasser, das Besteigen des Kilimandscharo in kurzen Hosen, 66 Meter Schwimmen unter einer Eisdecke und ein barfuß gelaufener Halbmarathon oberhalb des Polarkreises. Wenn ich auf einem entspannten Rundgang oberhalb des Polarkreises einen Barfuß-Jogger an mir vorbei eilen sähe, wäre ich weniger beeindruckt als besorgt. Denn auch Hofs Leistungen stehen der Selbstverletzung gefährlich nahe, nur um zu zeigen, welche Extreme ein Mensch ertragen kann. Obwohl die Eisbade-Gruppe in Marburg fast paritätisch besetzt ist, stellt sich im Hinblick auf die männlich dominierte Social Media-Präsenz der Praktik und der zunehmenden Werbung für Kaltbade-Utensilien in Männermagazinen die Frage, ob dieser Trend gerade für die Männerwelt ein weiteres Mittel darstellt, sich emotionaler Selbstkritik zu entziehen und mentale Dissonanzen durch körperliche Herausforderungen zu kompensieren. Es ist lohnt sich meistens, bei derart überzeugenden gesundheitlichen Versprechungen und dem daraus resultierenden kommerziellen Interesse an dieser Praktik genauer zu prüfen, wer letztendlich von diesen Zusicherungen profitiert.

Kapitalismuskritik und feministische Perspektive mal beiseite gelegt, wird das Eisbaden von einem Teil der Medizin sowie verschiedener semi-professioneller Studien nicht nur als eine psychologisch motivierte Aktivität angepriesen, sondern auch als eine Möglichkeit für gesunde Erwachsene, ihre Gefäßmuskulatur zu trainieren. Besonders relevant, wenn der Alltag wenig thermische Reize bietet, wie etwa bei langem Sitzen am Schreibtisch. In Zeiten eingeschränkter Entscheidungsfreiheit, verstärkt durch Ereignisse wie die Corona-Pandemie, suchen Menschen oft nach außergewöhnlichen Erlebnissen, um sich über deren Bewältigung zu freuen. Sowie die durch manch wissenschaftliche Stimmen gerechtfertigte Hoffnung auf eine ,,Abhärtung“ durch die Exposition intensiver Reize, die zu einer erhöhten Toleranz gegenüber Stress und Krankheit führen sollen.

Trotz kritischer Haltung, welche sich bei Recherchen selten ablegen lässt, erkenne ich das Winterbaden als witzigen Zeitvertreib an. Inspiriert durch die Marburger Gruppe, erwische ich mich gelegentlich dabei mit Kaltbadenden bei kühler Witterung in ein Gewässer zu steigen. Dadurch erwarte ich keine bahnbrechenden gesundheitlichen Erfolge, sondern schätze den kleinen Schock, der meinen Kopf klärt. Das gemeinsame Einsteigen in die Kälte, die Gespräche und die Tasse Tee danach, bereiten mir jedes Mal aufs Neue ein überraschend warmes Gefühl, selbst wenn meine Skepsis dabei nicht vollständig geschmolzen ist.

(Lektoriert von hab, jok und nir.)