Hochschulpolitik

Marburg steht nicht für Rassismus

By Elena Weller

February 23, 2023

Drei Jahre ist es her, dass in Hanau neun Menschen Opfer eines rassistischen Mordes geworden sind. Ihre Namen sindGökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Zurück bleiben die Angehörigen, die heute, drei Jahre später, immer noch erschüttert sind, wie wenig der Fall aufgearbeitet wurde. Die Zeit zitierte Familie Păun, die nach der Ermordung ihres Sohns Vili wieder nach Rumänien zurückgezogen ist, weil sie das Vertrauen in die deutsche Bundesregierung verloren hat. Sie haben guten Grund für Vertrauensverluste, unter anderem weil mehrere Jahre nach dem Mordfall immer noch nicht alle Umstände aufgedeckt und nicht alle Beteiligten zur Verantwortung gezogen wurden. 

Demonstrierende im Südviertel

Demonstration und Kundgebung am Erwin-Piscator-Haus

Hessens Problem mit der Aufarbeitung rechtextremer Verbrechen

Es ist sehr viel schiefgelaufen am 19. Februar 2020 und danach: Vier Tage nach dem Anschlag musste ein Spezialsondereinsatzkommando der Hessischen Polizei aufgelöst werden, weil sich darin nachweislich Mitglieder rechter Chatgruppen befanden, bis in den nächsten Tag wurde das rassistische Attentat als Milieu-Kriminalität eingestuft und die Hinterbliebenen wurden nicht schnell genug informiert, dass ihre Angehörigen verstorben waren. Viele Fakten über den Einsatz wurden erst von Journalist:innen aufgearbeitet und nicht von der Polizei an die Öffentlichkeit gebracht: Vili Viorel Păun wählte bevor er starb den Notruf, der aber nicht besetzt war, die Notausgänge des Tatorts waren verschlossen gewesen und der Täter hatte Zugang zu Waffen, obwohl er der Polizei als psychisch krank bekannt war. In einer Dokumentation wird thematisiert, wie der Vater des Attentäters auch heute noch die Verbliebenen bedroht und wie wenig die Polizei dagegen vorgeht. Keine Politiker:innen sind zurückgetreten, keine:r der Polizist:innen wurde entlassen. Einer der Überlebenden des Anschlags, Piter, erklärt in einer anderen Doku, er habe die Angst zuerst gar nicht richtig gespürt: „Die Angst kam als wir die Polizisten gesehen haben und die uns nicht geholfen haben.“ 

2019 der Mord an Walter Lübke, die Aufarbeitung der NSU-Akten und 2020 Hanau: Hessen reicht bei der Aufklärung rechtsextremer Verbrechen fast an Berlins Unfähigkeit, Wahlen zu organisieren heran. Das sollte Hessen peinlich sein. Mehr als das: Wir sollten alles dafür geben, dass rechte Gewalt unterbunden wird. Stattdessen treten deutsche Politiker:innen mit realitätsfremden Aussagen auf. Der Hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) behauptete, die Hessische Polizei hätte „exzellente“ Arbeit geleistet, die Vorsitzende der SPD Hessen, Nancy Faeser, sprach auf Twitter über die Silvesternacht in Berlin von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“ und der Ehemalige Bayrische Ministerpräsident Seehofer nannte 2018 die Migration die „Mutter aller politischen Probleme“

Kein Vergessen, kein Vergeben

Es gibt viele Stimmen, die zurecht dagegen protestieren, dass all das, die Namen der Ermordeten und die unbeendete Aufarbeitung des Falls, einfach vergessen wird. Am Sonntag gab es landesweit Demos. Auch eine Autostunde von Hanau entfernt, hier in Marburg, waren am Sonntag viele Menschen auf der Straße, um für eine Aufarbeitung des Falls und in Gedenken an die Opfer zu demonstrieren. Unter anderem Jusuf, der in einem Satz seiner Demo-Ansprache zusammenfasst, warum das Demonstrieren so wichtig ist: „Jeder rassistische Anschlag ist ein Anschlag auf unsere gesamte Gesellschaft.“ 

Treffpunkt Mahnmal

„Eine gemeinsame Organisierung und der entschlossene Kampf gegen Rassismus und Faschismus ist dringender denn je und kann nur in Verbindung unserer Kämpfe geschehen“, steht auf der Website des Allgemeinen Student*innen-Ausschusses. Deswegen sind der AStA und mehrere hundert Studierende heute auch dabei: Um den Rassismus in Marburg zu bekämpfen und die vergangenen Verbrechen nicht zu vergessen. Anlässlich des dritten Jahrestags des Anschlags in Hanau haben der AStA und die DIDF-Jugendzu einer Demo aufgerufen. Am 19.02 um 11.30 startete diese am Mahnmal Memoria am Friedrichsplatz. Das Mahnmal zeigt schwarze, wehende Fahnen und soll an die rassistischen Verbrechen erinnern. 2021 wurde es zum ersten Jahrestag des Anschlags in Hanau enthüllt. Im April 2021 wurde es von Randalierenden aus der Verankerung gerissen und im Februar 2022 wurde die Sockelplatte beschädigt sowie eine Gedenkplatte gestohlen. 

Auch in Marburg gibt es rassistisch motivierte Gewalt. Burschenschaften, racial profiling an den Lahntreppen und auf dem Wohnungsmarkt sowie die Beschädigung eines Mahnmals, das an die Verbrechen des 19. Februar 2020 erinnern soll, sind dafür nur einige Beispiele. Nachdem das Mahnmal erneut aufgebaut wurde, ist es jetzt Treffpunkt der Demo, die zum dritten Mal an diesem Ort den Ermordeten gedenkt und Aufklärung fordert. Oberbürgermeister Thomas Spies spricht klare Worte über rassistische Gewalt: „Dafür steht Marburg nicht.“ Er fährt fort: „Wir müssen Rassismus bekämpfen, und zwar nicht einmal am Jahrestag, sondern jeden Tag. Rassisten müssen wieder als Randgruppe, die sie sind, erkannt werden.“ Spies nennt auch konkrete Anlaufstellen, bei denen sich Betroffene von rassistischer Diskriminierung melden können. Es gibt staatliche Institutionen dafür und auch freie Träger. „Unsere Stadt hat keinen Platz für Rassismus“, schließt er seine Rede ab. 

Es gibt eine Schweigeminute, Redner:innen des AStA und der DIDF-Jugend sprechen sich dafür aus, dass das Memoria-Mahnmal geschützt wird und betonen die Bedeutung des Mahnmals, gerade nachdem zweimal versucht wurde, es zu zerstören. Dann läuft der Demozug los in Richtung Erwin-Piscator-Haus. Die Demonstrant:innen rufen: „Hoch die international Solidarität“, und den italienischen Kampfspruch: „Simao tutti Antifascisti“ (Wir sind alle Antifaschisten).

Wir müssen etwas ändern

Vor dem Erwin-Piscator-Haus werden wieder Reden gehalten. Ilayda aus der DIDF-Jugend erklärt: „Deutschland weigert sich anzunehmen, dass es ein strukturelles Rassismus Problem gibt.“ Dann Jusuf: „Die Polizei übt selbst Gewalt aus, anstatt Gewalt zu verhindern.“ Ein Redner des Internationalen Jugendvereins Marburg geht auf die gesellschaftlichen Gründe für Rassismus ein und erklärt diesen als eine Erscheinungsform, die auftrete, wenn sie jemanden einen Nutzen bringe. Deutsche Behörden stehen oft nicht auf der Seite der Opfer, weil sie daraus Profit ziehen: Politiker:innen finden in Migrant:innen Sündenböcke, die sie für soziale Probleme verantwortlichen machen können und Konzerne spalten Arbeiter:innen, um einem Aufstand entgegen zu wirken.

Besonders emotional ist für Viele die Performance der Theater-AG der DIDF-Jugend, bei der neun Darsteller:innen mit gemalten Portraits die Verstorbenen vertreten und in kurzen Sätzen die Ungerechtigkeiten an „ihrem“ Tod aufzählen. Eine Schauspielerin fängt an zu weinen, als sie von der Ermordung spricht. „Kein Vergessen, kein Vergeben“, rufen die Demonstrant:innen vor dem Erwin-Piscator-Haus und Tupac rappt über die Lautsprecher: „We gotta make a change, it‘s time for us as people to start making some changes.“ 

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Elena Weller

(Lektoriert von let und hab.)