Leben

Wie ein verpacktes Auto in Marburg viral geht und zeigt, wie scheiße Medien arbeiten können

By Katharina Meyer zu Eppendorf

January 21, 2016

Marburg hat einen neuen Star: Ein verpacktes Auto in der Frankfurter Straße. Und wie es mit großen Stars so ist, hat auch dieses Auto eine ganz besondere Geschichte. Versuchen wir mal zu erörtern, wie es dazu kam.

Donnerstag, 21.01.2016, 00:15. Susanna Roßbach, Leiterin unseres Ressorts Politik, ist gerade auf dem Heimweg der monatlichen StuPa-Sitzung. In der Frankfurter Straße erblickt sie das Auto, das eingepackt ist. Ihr journalistischer Blick lässt sie direkt erahnen, dass dieses Auto interessanter ist, als die anderen. Fotografieren tut sie es nicht. Zu dunkel ist es für ihre Handykamera. Und außerdem: Morgen ist ja auch noch ein Tag.

Donnerstag, 21.01.2016, 10:24 Susanna tat wie ihr journalistischer Blick ihr geraten und schickt das Foto des Autos in die PHILIPP-Redaktionsgruppe. Dort ist man sich einig. Wir wissen nicht was passiert ist, aber es sieht lustig aus, das veröffentlichen wir!

Donnerstag, 21.01.2016, 13:00 Das Foto geht auf unserer Facebookpräsenz online. Unserer journalistischen Sorgfaltspflicht gehen wir nach, indem wir uns direkt an unsere Leser:innenschaft wenden und fragen, wer das von ihnen war. Ein Philipp Haugton meldet sich. Vielleicht war er es, vielleicht auch nicht.

Donnerstag, 21.01.2016, 14:50 Auf der Seite Verspottet-Marburg wird das Auto auch aufgegriffen. Und anders als wir, präsentiert Verspottet auch gleich, wie es dazu kam. Eine betrogene Frau sei für den Zustand des Autos verantwortlich und gibt ihrem Exfreund laut Verspottet-Post vier Stunden, um den darin eingepackten Autoschlüssel wieder zu finden. Die Facebookmenge johlt, es wird geklickt und geklickt und geklickt. Auch von uns. Rache ist eben sexy. Aber hey, was ist mit dem dort veröffentlichten Foto? Kennen wir das nicht irgendwoher?

Donnerstag, 21.01.2016, 17:00 „Ey, das ist unser Foto!“, denken wir. Und beauftragen prompt unsere IT-Abteilung dem auf den Grund zu gehen. Und tatsächlich! ALTER! 1:1 kopiert, nur ein bisschen an der Seite zusammengecroppt, das offenbart Photoshop. Ja, mit dem Programm kann man tatsächlich mehr machen, als Fettpölsterchen wegschieben und Lichtverhältnisse manipulieren. Man kann die Medienwelt entlarven!

Donnerstag, 21.01.2016, 17:10 Nach etwas Bedenkzeit beschließen wir, die Verantwortlichen der Verspottet-Seite damit zu konfrontieren, dass das Foto auf ihrer Seite das unsrige ist und es deshalb Fragen aufwirft, inwieweit die Rachegeschichte damit in Einklang zu bringen ist. Verspottet meldet sich schnell zurück und schreibt, dass es ?! nicht weiß, ob die Geschichte wahr ist. Oh, wie schade. Wir fragen weiter, ob es sich für ein Medium mit zu dem Zeitpunkt etwa 5.500 Likes auf Facebook nicht gehöre, die Quellen zu prüfen, zumal sie dies in ihrer Beschreibung angeben. Sie „bemühten“ sich immerhin. Aber was solls, hauptsache Klicks. Scheiß auf Urheberrecht und Wahrheit! Aber sie seien auch kein journalistisches Medium, heißt es weiter. Das stimmt wohl so.

Donnerstag, 21.01.2016, 18:00 Die Geschichte des verpackten Autos könnte nun ihr Ende erreicht haben. Bis ein Artikel der örtlichen Lokalpresse im Newsfeed auftaucht, die vor mehreren Stunden auch das Auto entdeckt haben. Begeistert nun endlich zu lesen, was es mit dem Auto wirklich auf sich hat, da die Kolleg:innen der Lokalpresse anders als wir ja für ihre Arbeit bezahlt werden, klicken wir wieder. Klick. Klick. Klick. Und was müssen wir da lesen. Dieselbe Geschichte wie bei Verspottet. Dabei wissen die doch gar nicht, ob das stimmt. Ohweia, steht es wirklich so schlecht um den deutschen Journalismus? Hat Pegida recht?

Donnerstag, 21.01.2016, 18:15 Hurra, auch Verspottet merkt, dass es der „Kollege mit dem Auto“ in die Presse geschafft hat. Schade nur, dass sie sich nicht dazu äußern, dass sie ja gar nicht wissen, ob die Geschichte stimmt. Aber hey, egal. Klicks sind Klicks, ne? Die ersten Schaulustigen laufen auch schon zum Auto und machen das einzig Vernünftige. Genau: Selfies.

Donnerstag, 21.01.2016, 19:00 Klicks sind Klicks, wissen auch andere Medien. Das Auto eignet sich einfach zu gut! Aber endlich scheint mal jemand zu arbeiten, Hit Radio FFH bemüht sich, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und findet raus: Das Auto war ein Geschenk, kein Racheakt!

Donnerstag, 21.01.2016, 19:00 Auch die Boulevardpresse wurde anscheinend (EDIT 23.01.2016, 14:12: und das um 17 Uhr) aufmerksam. Hier wird natürlich nicht nachgeforscht. Aber hey, sharing is immerhin caring, ne. Und immerhin: Verspottet hat mittlerweile uns in die Credits gesetzt, sodass wir auch was vom Like-Kuchen abbekommen. YUMMY!

Donnerstag, 21.01.2016, 19:20 Upsi, doch nicht nur die Boulevardpresse. Auch bei der FAZ wird munter geteilt, geteilt, geteilt. Ohne Anmerkung, dass es ein Fake ist. Naja, ist ja auch schon spät. Aber werdet ihr nicht eigentlich dafür bezahlt? Seid ihr nicht dieses Prestige-Medium, oder gebt euch zumindest dafür aus?

Donnerstag, 21.01.2016, 19:20 Ach, Internet du holde Maid. Die ersten Erklärungen gehen ein. Verspottet positioniert sich nun auch auf seiner Seite klar, dass das Ganze ein Scherz ist. So ist das eben mit der Unwahrheit, sie kommt irgendwann immer ans Licht.

Donnerstag, 21.01.2016, 19:30 Ah, Angst. Ja. Auch die Lokalpresse merkt, dass sie da etwas auf den Leim gegangen ist und dementiert – indem sie den Artikel über das Auto einfach austauscht. Naja, hat ja bestimmt keiner gesehen. Außer wir, weil wir wissen wie man Screenshots macht.

Donnerstag, 21.01.2016, geg. 19:30 Ah, Pegida hat nich ganz recht! Der öffentliche Rundfunk macht seine Arbeit! Und Schlecky Silberstein reicht mal wieder nur das Teilen. Und auch bei der FAZ wird jetzt mal ein Machtwort, äh Dementi gesprochen!

Ja, das ist sie, die Macht des Internets und ein Paradebeispiel dafür, wie Medienmenschen dem so genannten Clickbait (Klickköder) verfallen. Es geht um Reichweite, klar. Denn die ist sexy und eröffnet in ihrer Konsequenz, dass man die Inhalte, für die man lebt und viel Zeit investiert, auch an die Menschen bringen kann, die sie sonst nicht lesen würden. Von der journalistischen Sorgfaltspflicht sollte euch das Clickbaiting trotzdem nicht entbinden, liebe Kolleg:innen der Lokal- und Überregionalpresse. Und klar, wir hier bei PHILIPP sind klein, Nachwuchs und „wir wissen ja gar nicht wie das so ist, mit dem Druck.“ Aber ist es dann nicht umso entlarvender, wenn gerade wir euch das sagen müssen? Naja, aber egal, ein Volo nehmen wir trotzdem!