Leben

Mit Bus und Bahn nach Kurdistan Teil II: Tag 5 bis 6

By Jana Weigl

November 26, 2023

Teil zwei der Artikelreihe unserer Redakteurin Jana über ihre Reise in die Autonome Region Kurdistan im Irak. Sie nimmt an einer Exkursion teil, die in der Hauptstadt Erbil startet und hat sich dazu entschlossen, statt mit dem Flieger mit dem Zug, aber vor allem mit dem Bus anzureisen. Nach fünf sehr eindrücklichen Tagen ist sie endlich in Istanbul angekommen und steht nun am Anfang der letzten Etappe des Hinwegs. Teil eins könnt ihr hier lesen.

Am Samstagmorgen stürze ich mich unwissend und arglos in die schwierigste Aufgabe meiner Reise: den Bus von Lider Istanbul nach Erbil finden, der in fünfundvierzig Minuten abfahren soll. Ich will unbedingt pünktlich sein und guter Dinge will ich mich nochmal schnell bei dem jungen Mann hinter der Hotelrezeption des Wegs vergewissern. Leider zeigt er in die entgegengesetzte Richtung als sein Kollege am Abend zuvor und führt seine Gestik mit den Worten „You go straight, then right“ aus. Unsicher gehe ich draußen einige Schritte durch den Regen in die entsprechende Richtung, dann drehe ich wieder um. Zurück in der Lobby versuche ich in das WLAN-Netz reinzukommen, was mir nicht gelingt, doch mittlerweile ist ein weiterer Mann im Foyer aufgetaucht. Die beiden diskutieren auf Türkisch und fragen mich schlussendlich, ob ich meine Freunde anrufen möchte. Dann googelt der Rezeptionist kurz und auf einmal scheint den beiden alles klar zu sein. Autobus, Autobus rufen sie immer wieder fragend und machen dabei Bewegungen, als würden sie sehr zügiges Nordic Walking betreiben. Wild gestikulierend und durcheinanderredend, schieben sie mich nach draußen. Zum Abschied klopfen sie mir nochmal auf die Schulter, dann schubsen sie mich in den Regen. Nach einigen Metern erkenne ich ein Reisebüro. Der Betreiber, der gerade frühstückt, weist mich mit einer Handbewegung um die Ecke. Gott sei Dank, denke ich, das ging ja flotter als gedacht. Auf dem Platz hinter dem Laden stehen einige Busse, an den Wänden sind die Banner verschiedener Busunternehmen plakatiert. Erleichtertes Ausatmen, Puls sinkt.

Nur Lider Istanbul ist nicht drauf. Panisches Einatmen, Puls steigt. Ein Mann mit Warnweste kommt auf mich zu, ich zeige ihm die gesuchte Adresse, die er wiederum einem anderen Mann in einem Wartehäuschen zeigt. Wieder wird auf Türkisch diskutiert. Eine andere Warnweste kommt hinzu. Er winkt mich schließlich zu seinem Taxi. Oh Mann. Je länger wir fahren, desto mulmiger wird mir. Mit weit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen betrachte ich das langsam erwachende Istanbul. Ich versuche, mich zu beruhigen: Sollte ich meinen Bus verpassen, fahre ich einfach zum Flughafen und fliege rüber. Dann hält der Fahrer auf einmal, als vor uns ein Bus von Lider Istanbul auftaucht. Mein Herz beruhigt sich langsam, nur um dann wieder schneller zu schlagen. An der Frontscheibe steht kein Schild Istanbul – Erbil, sondern Gaziantep – Istanbul. Das Herz sinkt mir in die Hose. Der Fahrer redet in einem schnellen Türkisch auf mich ein. Ich weiß nicht, was er will und falle desto mehr in Hektik, je schneller er redet. Für die fünfminütige Fahrt verlangt er 10 Dollar. Ich gebe ihm fünf. Mittlerweile ist es 10 Minuten vor Abfahrt. Mehrere Busse stehen an dem schmalen Streifen. Hoffnung keimt wieder in mir auf. Davon wird es bestimmt einer sein. Doch der einzige Bus von Lider Istanbul ist der aus Gaziantep. Alles ist dunkel. Es ist nass, kalt und grau. Die Palmen am Straßenrand wehen im schneidenden Wind. Ich beschimpfe und bemitleide mich gleichzeitig. Neben dem Bus steht ein Mann. Vielleicht weiß er ja, wo ich hinmuss. Ich zeige ihm die Adresse. Erbil, fragt er nur. Ich nicke aufgeregt und er schiebt meinen Koffer in den Bus. Ich kann mein Glück kaum fassen.

Bevor wir abfahren, betreten wir zunächst einen Laden, offensichtlich das Büro des Unternehmens. In dem kleinen Raum drängen sich mehrere Leute. Als ich ihn betrete, richten sich alle Augen auf mich. Gemäß dem Motto, Angriff ist die beste Verteidigung, versuche ich breit zu lächeln. Niemand lächelt zurück, doch dafür fangen wieder alle an, aufeinander einzureden. Ich zeige mein Ticket, dann wird mir bedeutet, mich zu setzen. Ich bin eine Kuriosität hier, als junge Frau mit blonden Locken. Obendrein trage ich eine knallgelbe Bluse mit buntem Obstaufdruck. Nicht zum letzten Mal in den nächsten Tagen wünsche ich mir morgens einen besseren Sinn für Style-Entscheidungen. Da wir sprachlich keinen gemeinsamen Nenner haben, erfahre ich von der monotonen Google-Übersetzer-Frauenstimme, dass der Bus um acht losfährt. Ich weiß nicht, ob ich weinen soll angesichts meiner Paranoia eine halbe Stunde vorher, den Bus zu verpassen oder lachen, weil ich so selbstverständlich davon ausgehe, dass deutsche Standards auch im Ausland gelten. Um Punkt 8 machen wir uns dann zum Bus auf. Fast pünktlich um halb neun fahren wir los.

Start am Aksaray-Platz in Istanbul.

Die Busfahrt

Die Sitze sind durchgesessen, kleine abgenutzte Fernseher sind über die ausklappbaren Tischchen eingebaut. Ein junger Mann teilt Tüten mit Börek darin aus. Ein Börek. Bis kurz vor Ankunft kann ich nicht glauben, dass das tatsächlich die bei der Buchung versprochene „warme Mahlzeit“ sein soll. Kurz darauf sprüht er Lavendelgeruch durch den Bus. Stinkt doch gar nichts, wundere ich mich, bevor mir mal wieder Zigarettengeruch in die Nase dringt.

Zwischen Istanbul und Kocaeli durchqueren wir hauptsächlich Wald. Nach Kocaeli öffnet sich der Himmel und gewährt einen letzten traumhaften Ausblick auf das Marmarameer, in dem Abdullah Öcalan, der kurdisch-türkische Freiheitskämpfer und Gründer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, seit zwanzig Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali seine Strafe absitzt. Weniger wässrig, dafür genauso schön ist die Hügelkette zu meiner Linken, in die sogar eine Bergspitze eingebettet ist. Teils asphaltierte, teils einfach ausgetretene Wege winden sich zwischen Dörfern und Häusern vorbei. Marode Holzhütten mit halb herunterhängenden Dachziegeln, teilweise ersetzen Plastikplanen die Wände. Überall liegt Müll. Manchmal taucht am Horizont die zarte Silhouette einer Bergkette auf. Zypressen säumen unseren Weg. Oft karg. Manchmal sattgrün. Gelegentlich rotbraune Hügellandschaften. Symmetrische, von eingerissenen, kaputten Zäunen umspannte Wohnanlagen, ausgebleicht von der Sonne und schmutzig vom Straßenstaub, Parkplätze und Grünflächen dazwischen. Am Straßenrand werden alle paar Meter Tee und Kaffee angeboten. Wir erreichen Bolu. 

Siedlungen wie diese sehe ich auf meiner Reise immer wieder. 

Sie entladen ein ganzes Auto voll Gepäck, das im Businneren einen neuen Platz finden wird. Dann ist alles eingeladen, denn wir fahren wieder. Während wir durch die Straßen rollen, wird hinten noch 3D-Tetris gespielt. Einzelne, verarmte Siedlungen. Prächtige Moscheen. Auf den Gipfeln der Bergketten im Hintergrund liegt noch Schnee. Eine Bäckerei, die mit ihren Waren wirbt, fliegt an uns vorbei. Sehnsüchtig starre ich ihr hinterher. Aus dem kargen Nichts erheben sich im Hintergrund glänzende, verglaste Türme und große Anlagen. Wir sind in Ankara, der türkischen Hauptstadt. Wieder halten wir, wieder steigen weitere Reisende ein. Es dauert, bis wir weiterfahren können. Tetris next level. Rotbraune Fichtenplantagen ziehen an uns vorüber. An einer Tankstelle jagt mich mein Hunger aus dem Bus. Es gibt nichts Gesundes, dafür viel Plastik. An der Kasse kann ich die obligatorische Plastiktüte gerade noch umgehen. Ich zahle 63 türkische Lira, umgerechnet etwas mehr als drei Euro für drei Packungen Kekse, die nicht ganz so widerlich süß aussehen wie das restliche Angebot.

Dann fahren wir ziemlich lange, ohne eine weitere Pause. Ich esse Kekse und schaue aus dem Fenster. Zwischen den Feldern schlängeln sich mal mehr, mal weniger befestigte Wege. Kaum Menschen. Kurz vor sieben halten wir wieder. Mittlerweile ist es draußen abgekühlt, die Sonne weg und der Mond steht schon am Himmel. Schon zum zweiten Mal wird unser Bus heute mit Wasser abgespritzt. Wasserknappheit scheint kein Thema zu sein. Bildschirmzeit: Acht Stunden. Nahe der türkisch-syrischen Grenze werden die Straßen schlechter. Es ist halb zwei morgens. Ich bin sehr müde und friere ein wenig. Ein Mann schenkt mir eine Schlafmaske. Auf einmal sind wir an der Grenze. Grelle, gleißende Neonröhren, die Türen gehen auf. Ein Mann kommt rein. Passkontrolle. Der Mann geht durch den Gang, schaut sich alle Ausweisdokumente an, geht wieder raus. Der Bus fährt 10 Meter nach vorne. Hält. Licht an, Türen auf, alle steigen aus. Die Nachtluft ist angenehm, nicht kühl, nicht heiß. In einigen Wochen wird das bereits anders sein, dann wird die Sonne schon vormittags mit 30 Grad auf die Erde niederbrennen. Wir gehen einen langen Gang entlang, vorbei an der Werbung für Paco Rabanne, dann müssen wir an der Passkontrolle warten. Dahinter ein Duty-Free Shop, darüber Werbung für Raki und Adidas. Die Frauen auf den Plakaten haben wenig an. Die wenigen Frauen um mich herum zeigen außer dem Gesicht und der Hände so wenig Haut wie möglich. Die einzige Hautfarbe, die in den Anzeigen auftaucht, ist weiß. Weiß ist die einzige Hautfarbe, die diese Grenzstation so gut wie nie passiert. Warum auch? „Irak nix gut“, erinnere ich mich an die Worte eines Mannes im Büro des Busunternehmens. Ich bin aufgeregt. Mehrmals wird mein Pass gescannt, „look camera please“, streng werde ich gemustert, dann gehe ich weiter. Eigentlich muss ich aufs Klo, doch es riecht so unerträglich, dass ich es schnell wieder verlasse. Im Duty-Free-Shop gibt es Süßigkeiten, Alkohol und Regale voller Zigaretten. Halb voll, nachdem die Männer den Shop verlassen haben.

Licht an, Türen auf, Passkontrolle

Als um kurz vor fünf Uhr morgens alle wieder auf ihren Plätzen sitzen, fangen die Männer an, die Koffer, Taschen und Tüten aus dem Bushinteren aus- und in den Laderaum des Busses einzuräumen. Wir fahren einige Meter, bleiben stehen. Licht an, Türen auf. Erneute Passkontrolle. Dann kriecht der Bus langsam über die Grenze. Beziehungsweise, über die erste Grenze. Ungefähr 50 Meter trennen die türkische von der kurdischen Grenzstation. Flutlichter sorgen dafür, dass sich niemand unbemerkt von der Türkei nach Kurdistan schleicht, und, viel wichtiger für die Türkei: erst recht nicht umgekehrt. Die Flutlichter sorgen auch dafür, dass niemand im Bus mehr schlafen kann. Falls bis jetzt überhaupt irgendjemand ein Auge zu machen konnte. Um 05:40 Uhr haben wir zwar schon ein paar Meter gemacht, hängen aber immer noch im Zwischengrenzland fest. Ein Baby schreit. Alle sind todmüde, die Sitze zum Schlafen zu unbequem und das lange Warten ist zermürbend. Wer sich das freiwillig antun will (ich) oder sich nichts anderes leisten kann, bzw. einen halben Umzug per Fernbus organisiert (die meisten anderen im Bus), braucht starke Nerven und Kopfhörer mit Noise Cancelling. Nach einer guten halben Stunde bewegen wir uns etwas nach vorne. Licht an, Türen auf. Passkontrolle, diesmal von kurdischer Seite. Aussteigen. Koffer aufs Fließband und durch den Metalldetektor. Als Nächstes steht das Passstempeln an. Zehn Minuten später und 75 Dollar ärmer verlasse ich das Grenzgebäude, gerade rechtzeitig, als aus weiteren Bussen noch mehr Menschen strömen und lange Schlangen bilden. Abboush setzt sich neben mich. Wir beginnen über Google-Übersetzer ein Gespräch, das für meine Verhältnisse zunächst etwas schräg beginnt (Sind Sie in Erbil verheiratet? Warum nicht?), dann aber doch noch die Kurve kratzt. Um 7 Uhr morgens lassen wir die Grenze endlich hinter uns. Wir sind in Kurdistan. Krass, ich bin einfach im Irak. Faktisch gesehen zumindest. Nach einigen Metern halten wir auf einem großen Parkplatz hinter der Grenzstation mit Shops und einem Restaurant. Was wir hier tun oder worauf wir warten, weiß niemand so genau. Die Busfahrer sind verschwunden. Abboush erzählt mir, dass er im Krieg gegen den IS, in dem auch er mit 15 gekämpft habe, seinen großen Bruder verloren habe. Danach habe er hier nicht mehr leben wollen, aber sein großer Traum, sich in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen, sei geplatzt, als das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) die Einladung seines bereits hier wohnenden Onkels abgelehnt habe. Er erzählt nicht. Er plaudert. Als wäre das Thema nicht Krieg, sondern Fußball. Längere Gespräche über Google-Übersetzer sind wegen mangelnder Internetqualität und Konzentration seitens Abboush leider schwierig. Da wir noch eine Weile zu stehen scheinen, vertrete ich mir draußen noch mal ein wenig die Füße. Einer der Männer erklärt mir, dass Erbil wie Dubai aussehe, zumindest von den Gebäuden her. Das Dubai Kurdistans. Und Iraks. Er will meine Handynummer, falls ich eine Bleibe brauche oder anderweitig Hilfe benötige oder seine Familie kennenlernen wolle. Ich lehne fünfmal freundlich ab.

Als ich mich umsehe, kommt der Vater, der mittlerweile vor mir sitzt, zu mir. Er ist der Dritte, der mich über den Standort der Toilette aufklären möchte. Danach lässt er einen Redeschwall auf mich los. Ich nicke und zucke mit den Achseln, in der Hoffnung, dass er bald geht, doch sobald er fertig ist mit Reden, schiebt er noch eine Frage hinterher. Ich versuche ihm mehrmals deutlich zu machen, dass ich seine Sprache nicht beherrsche, doch das scheint ihn an unserer Konversation nicht zu stören. Bald gesellen sich sein Sohn Usama und Abdallah dazu. Sie klinken sich in das angeregte, wenn auch einseitige Gespräch ein. Abdallah redet auf mich ein und zeigt mir Bilder von Kleiderschränken, Küchen, Lampen und Maschinen. Ob er das alles gebaut hat, in einem Möbelstudio vertreibt, es ihm gehört oder er einfach ein Faible für Inneneinrichtung, Haushaltsgegenstände und sehr große Maschinen hat, kann ich nicht ganz sicher sagen. Ich komme mit dem nächsten Reisenden ins Gespräch, ein junger Mann, der in Bolu eingestiegen ist, sein bisheriger Wohnort. Jetzt müsse er zurück nach Kurdistan ziehen zu seinen Eltern, weil es in Bolu keine Jobs mehr für ihn gäbe. Er wirkt gefrustet, aber auch von unserem Gespräch gelangweilt, denn plötzlich läuft er einfach weg. Auf einmal kommt Bewegung auf. Alle, die nach Erbil wollen, sollen mit einem anderen Bus weiterfahren, der sich neben unseren gestellt hat und Abboush beginnt hektisch meinen Koffer zu suchen. Dann müssen wir uns verabschieden und mein neuer Bus fährt ab. Ich nicke kurz ein.

Endlich Erbil

Bis Dohuk ist der Irak sehr flach und sattgrün. Danach wird es immer karger und steiniger. Wellblechdächer sind mit Steinen beschwert, sodass der starke Wind sie nicht davonwehen kann.

Von kleinen Jungen gehütete Schafherden tauchen auf, verschwinden. Ahmed, der mit mir auch im vorherigen Bus saß, fragt mich, ob wir Freunde werden wollen und ich am Abend schon was vorhabe, weil er mich gerne zum Essen und am nächsten Tag auf den Markt einladen wolle. Und ob ich mir in Erbil später mit ihm ein Taxi teilen möchte. Das Taxi sage ich zu, beim Rest bleibe ich wage. Überall sind Kurdistan-Flaggen zu sehen. Dann erreichen wir endlich Erbil. Das erste Gebäude zu unserer rechten ist ein entstehendes Wohnhaus. Mehr Baustellen ziehen an uns vorbei, je näher wir dem Stadtkern kommen. Bürgersteige sind nicht wirklich vorhanden, es sieht so aus, als würden Privatgrundstücke immer direkt an die Straßen grenzen. Ich sehe viel Beton. Verglaste Wolkenkratzer – Fehlanzeige. Ich glaube, Dubai sieht anders aus. Der Bus hält an. Ahmed drängt mich nach draußen. Sofort sind wir von Taxis umringt. Ahmed bugsiert mich und mein Gepäck hinein, nach 10 Minuten sind wir bei meinem Hotel, wo ich mich von Ahmed verabschiede. Ich bin nicht oft in teuren Hotels, also eigentlich nie und deshalb umso mehr beeindruckt, wenn ich dann doch mal in einem schlafe. In der Lobby spiegeln sich die Deckenleuchten im gebohnerten Fliesenboden.

Die Schafherden sind allgegenwärtig.

Bei der Loungegruppe wartet bereits ein Teil meiner Reisegruppe und Miro, der Exkursionsleiter, die sich gerade auf den Weg zum Basar machen. Ich checke erstmal ein und mache es mir in dem großzügigen Zimmer bequem. Im Bad schlägt mir unweigerlich ein Chlor-Geruch entgegen, der sich durch all meine Badezimmer-Erlebnisse auf dieser Reise zieht. Hinter dem Klo ist es nicht sonderlich sauber, aber die Stelle kann man ja auch gut ignorieren. Ansonsten sieht es aus, wie ich denke, dass es in allen Hotelbädern aussieht. Am Zimmer selbst habe ich nichts zu beanstanden, aber ich besitze auch nur wenig, um nicht zu sagen gar kein Vergleichsmaterial. Weil ich keine ‚offizielle‘ Kleidung dabeihabe, die wir aber für formale Termine brauchen werden, bin ich später mit zwei der anderen Mädels aus der Gruppe für einen Besuch der Mall auf der anderen Straßenseite verabredet. Auf der Seite von MEE, dem Veranstalter, gibt es ein Bild einer älteren Reise mit Kurd*innen und Exkursionsteilnehmer*innen. Weil alle Frauen auf dem Bild Kleider tragen, gehe ich davon aus, dass alle anderen Mädels auch Kleider tragen werden. Völlig idiotisch, natürlich hat niemand auch nur ein einziges Kleid dabei.

Viel spannender als das Einkaufszentrum ist aber der Weg dorthin. In Kurdistan (und ich vermute auch im restlichen Irak) sind Ampeln und Zebrastreifen eine Rarität, wenn nicht sogar eine Kuriosität. Verkehrsschilder sind einzeln gelegentlich anzutreffen und wenn, dann betreffen sie sicher nicht die Geschwindigkeit, denn hier fahren alle, wie und so schnell sie wollen. Das sichere Überqueren der Straße gelingt am besten, indem man dem Fahrer des nächsten Autos direkt in die Augen sieht und wagemutig auf die Straße tritt (ich habe zur Sicherheit immer noch warnend eine Hand gehoben, keine Ahnung, ob das was gebracht hat). No Risk, no Fun. Gesund erreichen wir das Einkaufszentrum. In der Mall gibt es fast nur Bekleidungsgeschäfte. Manchmal ist die Kleidung schon kaputt oder schlecht genäht. Trotzdem bin ich begeistert von den vielen kraftvollen Farben, die uns an den Kleiderstangen begegnen. Viele Läden stehen leer. Essen gibt es nur im Untergeschoss. Deprimierend.

Zurück in meinem Hotelzimmer treffe ich meine Bettnachbarin. GOTT SEI DANK hat sie zwei Anzughosen und Blazer dabei, wovon ich mir eine Ausstattung ausleihen darf. Da hat mein Aussehen in puncto Klamotten für die nächsten Tage doch nochmal die Kurve gekratzt. Um 19:30 treffen wir uns in der Lounge, bevor wir gemeinsam zum Abendessen fahren. Mittlerweile sind alle Gruppenmitglieder angekommen. Unser Exkursionsleiter Joan-Mohammed Miro, der aber von allen nur bei seinem Nachnamen genannt wird und selber auch Kurde ist, hat MEE 2008 während seines Studiums mit zwei Freunden gegründet. Seitdem sind immer mehr Leitende dazugekommen, die aus purer Begeisterung für die Region Gruppenreisen durch die Länder des Nahen und Mittleren Osten organisieren. Durch die vermehrten Krisen in der Region sind momentan aber nur Exkursionen nach Armenien und Kurdistan möglich. Meist sind die Teilnehmenden junge, studierende Erwachsene. Auch in der Hinsicht sind wir eine relativ homogene Gruppe, die Mehrheit von uns ist zwischen 20 und 30 Jahre alt. Bevor es losgeht, werden uns noch Vertreter der KSU vorgestellt, der Kurdistan Students Union. Sie werden uns die nächsten Tage zu vielen unserer Treffen und Terminen begleiten und haben mitunter auch den Kurs gesetzt bezüglich der Parteien und Politiker, die wir so im Laufe der Tage treffen werden. Da es kaum möglich ist, längere Strecken zu laufen, müssen wir beinahe jeden Meter von unserem Fahrer Badi/Buddy in seinem Kleinbus gefahren werden. Die Fahrt zum Restaurant dauert nur kurz. Wir speisen im Ingenieur‘s Club. Clubs sind hier aber (leider) nicht zum Feiern, sondern zum Essen gehen. Zeltwände und Kunststofffliesen bestimmen das Ambiente.

Mein Tisch (vier Personen) bestellt ‚erstmal‘ nur Vorspeisen, bestehend aus Taboule, Hummus und einem Salat mit frittiertem Blätterteig. Und Brot, ein treuer Begleiter für die nächsten Tage. Noch nie habe ich an einem Abend oder besser gesagt, in zehn Tagen, so viel Brot gegessen. Mein kulinarischer Kurdistantipp: Nur Vorspeisen reichen in Kurdistan. Vollkommen. Ganz egal (!), wie viel in euren Magen passt und wie viel Hunger ihr habt. Ich rate auch dazu, den Brotkonsum niedrig zu halten, wenn ihr keinen Blähbauch riskieren wollt. Ich spreche jetzt aus Erfahrung. An jedem Tisch im mittlerweile vollen Raum wird wild Shisha geblubbert und geplaudert. Je weiter der Abend voranschreitet, desto stiller wird es um meine Ecke des Tisches. Alle sind erschöpft und als Miro endlich die Hotelrückkehr andeutet, macht sich Erleichterung breit. Es war ein langer Tag und die nächsten werden nur geringfügig weniger intensiv werden. 

Fortsetzung folgt …

(Lektoriert von let, hab, lab und jok.)