Wie ein Auslandssemester dir die Augen öffnen kann

Wie ein Auslandssemester dir die Augen öffnen kann

Ein Erasmus-Semester ist für die meisten Studierenden bereits zum Pflicht-Bestandteil ihres Studiums geworden. Und es ist auch ein fantastisches Versprechen: Ein halbes oder ganzes Jahr aus dem tristen Deutschland fliehen, hinaus in die Welt (oder zumindest in ein anderes EU-Land). Unsere Autorin Muriel lebte zwischen den Attentaten und Präsidentschaftswahlen in Frankreich und fand ein Land vor, das ihren lange gehegten Traumvorstellungen nicht ganz gerecht werden konnte.

Im Haus meiner Nachbarn lebt ein Huhn. Manchmal, wenn ich aus der Wohnung komme, höre ich es empört gackern. Die Empörung des Huhns ist insofern verständlich, als dass das Haus meiner Nachbarn nicht in der ländlichen Campagne, sondern mitten in der belebten Innenstadt des südfranzösischen Bordeauxs steht. Saint Michel, benannt nach einer großen Kirche aus dem 14. Jahrhundert, ist ein beliebtes Viertel. Regelmäßig findet man hier Straßenfeste und Konzerte, am Wochenende Floh- und Gemüsemärkte. Außerdem bekommt man ein Glas Rotwein hier schon für erschwingliche zwei Euro – in einer Stadt, in der man für ein Bier gerne mal acht bezahlt, eine angenehme Abwechslung.

Läuft man durch die riesige Altstadt Bordeauxs, verändert sich das Stadtbild kontinuierlich. Gambetta gehört den Großverdienern, Saint Pierre den Studierenden – mit Saint Michel beginnt das Gebiet der Nordafrikaner:innen. Wohnte ich in meinem ersten Monat in Bordeaux noch im studentisch geprägten Saint Pierre, mit all seinen Restaurants und Bars, kam mir der Umzug im Oktober nach Saint Michel – obwohl fußläufig von meiner alten Wohnung – vor wie der Umzug in eine andere Welt. Arabische Gemüse- und Delikatessenläden, Halal-Fleischereien und Kleidungsgeschäfte, die sich auf den Verkauf festlich bestickter Schleier beschränken, prägen das Straßenbild. Vom ersten Moment an war ich verliebt in die bunte, multikulturelle Atmosphäre meines neuen Zuhauses. Die Schattenseiten lernte ich kennen, als die Sonne unterging. Dann postieren sich auf den Straßen Drogendealer. Junge Männer, die gelangweilt an ihrem Standpunkt auf Kund:innen warten. Als blonde Frau Anfang 20 bin ich jedes Mal ein willkommener Zeitvertreib. „Hey Süße, du siehst toll aus“, „Ist die SMS für mich?“, „Jetzt guck doch nicht so traurig“, „Hey, sprich mit mir! ICH HAB GESAGT SPRICH MIT MIR“. Inzwischen höre ich die unzähligen Anmachen kaum noch, am Anfang machten sie mir Angst.

Orte des sozialen Abstiegs

Der französische Begriff „Banlieue“ bezeichnet die Randzone von Großstädten, in denen ursprünglich geringer qualifizierte Arbeitskräfte günstigen Wohnraum fanden, in die aber auch immer mehr und mehr ausländische Arbeitskräfte zuzogen. Im Zuge der Deindustrialisierung wurden diese Stadtviertel zu Orten sozialen Abstiegs – 2013 brannten in den Pariser Banlieues Autos und es gab Krawalle durch die desillusionierte und marginalisierte jugendliche Bevölkerung. Obwohl Saint Michel im klassischen Sinne kein Banlieue ist, merkt man auch hier die prekäre Situation der vorherrschenden Bevölkerungsschicht. Die Häuser sind heruntergekommen, die Straßen schmutzig und die Bettler überall. Nach den Anschlägen in Paris und Nizza verhängte der französische Präsident Nicolas Hollande den Ausnahmezustand. Im Alltag merkt man davon nicht besonders viel, mit Ausnahme der regelmäßigen Patrouillen schwer bewaffneter Soldat:innen entlang bevölkerter Plätze und Straßen. Vielleicht kommt es mir nur so vor, doch in Saint Michel habe ich schon mehr von ihnen gesehen als an allen anderen Orten in Bordeaux.

Bevor ich nach Frankreich kam, erschien mir unser großer Nachbar wie das Traumland schlechthin. Ohne Nazi-Vergangenheit, dafür mit gutem Wein, identifizierte ich mich immer gern mit dem französischen Teil meiner Familie. Und zumindest in den ersten Wochen übertünchte der Geruch von frischgebackenem Baguette den modrigen Gestank, den die nicht aufgearbeitete, kolonialistische Vergangenheit, der Rassismus und die Angst vor weiterem Terror absonderten. Mit den bröckelnden Fassaden Saint Michels bröckelte jedoch auch die Frankreichs. Während meines Erasmusaufenthalts habe ich viele Dinge gesehen, die mir an meinem früheren Traumland nicht gefallen: Dass People of Color, die Einkaufsläden verlassen, fast immer kontrolliert werden, dass die Lehre an den Universitäten sehr dogmatisch ist und kaum Spielraum für kritische Fragen lässt, dass Herkunft wichtig ist – sofern deine Familie aus dem Maghreb stammt. Eine Erasmus-Kommilitonin erzählte mir: „Ich komme aus Schweden, aber mein Vater ist Algerier. Jedes Mal, wenn ich Kritik übe,  sagen sie: ’Natürlich denkt sie so, sie ist Araberin‘“.

Nationalistische Gehirnwäsche

Mit Französ:innen über die Probleme Frankreichs zu sprechen ist nicht leicht. Eine französische Dozentin – wohlgemerkt Dozentin an der Science Po, Kaderschmiede für die französischen Politik- und Verwaltungseliten – erklärte uns Austauschstudierenden, der Nationalismus in Deutschland sei viel schlimmer als der französische: „Den Deutschen wird doch schon im Kindergarten eine nationalistische Gehirnwäsche verpasst“. Wir gehirngewaschenen Deutschen, aber auch andere Austauschstudent:innen versuchten immer wieder darüber zu diskutieren – mit geringen Erfolgen. Und obwohl Marine Le Pen auf dem Vormarsch ist, Pariser Banlieues zu No-Go-Areas erklärt werden und auf den Straßen der Großstädte jeden Tag bis an die Zähne bewaffnete Soldaten patrouillieren, fand ich während meines ganzen Aufenthalts keinen einzigen Franzosen,  der zugegeben hätte, dass Frankreichs heutige Probleme auch in seiner Vergangenheit begründet liegen.

Einmal stand das Tor zum Haus meiner Nachbarn offen. Ich lugte durch den Türspalt, in der Hoffnung einen Blick auf das unaufhörlich gackernde Huhn zu erhaschen. Aber ich habe das Huhn nie gesehen.

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