„Hey Süße, komm doch rüber! Wir besorgen’s dir!“
Ich bin fünf und besuche meine Großmutter. Ich trage mein Lieblingskleid als ihr Lebenspartner mich fragt, ob ich darunter denn auch ein Höschen anhabe. Meine Mutter, die den Vorfall mit angehört hat, schreit ihn daraufhin so an, dass er die Nacht in seinem Auto im Wald verbringt.
Ich bin sechzehn und feiere zum ersten Mal Karneval mit meinen Freunden auf der Kölner Domplatte. Ich unterhalte mich mit zwei jungen Typen, als der eine mich plötzlich an sich heranzieht und mir die Zunge in den Hals steckt. Dann stößt er mich zu seinem Kumpel, der es ihm gleich tut. Ich reiße mich los und renne weg. Als ich einem Freund davon erzähle, sucht er die Domplatte eine Stunde nach den Typen ab, die schon lange in der Menge verschwunden sind.
Ich bin dreiundzwanzig und laufe nachts allein durch Marburg. Ich komme an einer Gruppe Jungs vorbei, sie stehen vor dem Lecker-Eck und trinken Bier. Wahrscheinlich sind sie Studenten wie ich. Einer ruft mir zu: „Hey Süße, komm doch rüber! Wir besorgen’s dir!“. Ich wickle meine Jacke enger um mich und laufe schneller. Ich bin froh, als ich vor mir ein Auto aufleuchten sehe.
Ich könnte mehr solcher Geschichten erzählen. Ich kenne kaum eine Frau die es nicht kann. Ich kenne auch Männer die mir von solchen Vorfällen erzählt haben, meistens sind sie schwul oder queer. Doch diese Art von Geschichten gehört nicht zu denen, die man lachend am Kneipentisch anspricht. Vielleicht in der eigenen Küche mit engen Freunden, aber ungern in der Öffentlichkeit. Als der Twitter-Hashtag #metoo zu trenden begann, postete ich die Geschichte aus Köln. Nach zehn Minuten löschte ich meinen Tweet. Es war mir unangenehm. „Das war doch nichts“, dachte ich, und: „Du warst angetrunken. Du warst vielleicht selbst schuld“. Ich fühlte mich nackt; von mir selbst entblößt.
Opfer sexueller Gewalt neigen dazu, die Verantwortung bei sich selbst zu suchen. Das ist ein Fehler und ich arbeite immer noch daran, es als solchen zu verinnerlichen. Aber ich habe Glück: Ich habe ein soziales Umfeld, welches sexuelle Angriffe weder toleriert noch unter den Tisch kehrt. Viele Frauen haben das nicht. Sie sind allein mit ihren Erfahrungen, die teilweise noch deutlich schwerer wiegen als die meinen. Sie geben sich selbst die Schuld, sie schämen sich für das Erlebte. Sie wissen nicht, dass es uns allen bereits passiert ist.
„Das Private ist politisch“ wurde zum Leitspruch der zweiten Feminismuswelle. Damals war Vergewaltigung in der Ehe noch keine Vergewaltigung und Frauen im Allgemeinen weit von vollständiger Gleichberechtigung entfernt. Probleme wie häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch in der Familie wurden in den Bereich des Häuslichen, des Privaten gekehrt. So machten die Feministinnen der 60er und 70er Jahre es sich zur Aufgabe, die Geheimnisse vieler Familien ins grelle Tageslicht der politischen Öffentlichkeit zu zerren. Und sie triumphierten: Die Welt in die wir Mädchen heute geboren werden ist nicht mehr die, in der unsere Mütter aufwuchsen. Wir können jeden Beruf ergreifen; selbst entscheiden, ob die befruchtete Eizelle in unserem Bauch ein Kind werden soll und wenn uns jemand anfasst, egal wer, dann können wir damit zur Polizei gehen. Doch der Kampf um die vollständige Gleichberechtigung, von der deutschen Politikwissenschaftlerin und Journalistin Sabine Berghahn einmal als „Ritt auf der Schnecke“ bezeichnet, ist noch nicht beendet. Es gibt verschiedene Wege sich daran zu beteiligen und einer davon ist, heute wie gestern, eine Öffentlichkeit zu schaffen für die Probleme, über die niemand gerne spricht. Natürlich bedeutet kein Twitter-Hashtag das Ende sexueller Gewalt. Trotzdem kann die daraus resultierende Debatte uns noch heute helfen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass im Kampf um die Gleichberechtigung zwar wichtige Schlachten bereits geschlagen, der Krieg aber noch nicht gewonnen ist.
Dabei soll niemand sich gezwungen fühlen, Erlebnisse, welche zu den intimsten und unangenehmsten des eigenen Lebens zählen dürften, in sozialen Netzwerken zu teilen. Aber irgendetwas sollten wir alle tun. Es muss nicht einmal mehr im Namen des Feminismus geschehen: Opfer, Täter, Unbeteiligte, Männer, Frauen, Homo- und Heterosexuelle, Queers – Wie wir in dieser Gesellschaft leben wollen geht jede:n von uns etwas an. Ich habe kein neues Erlebnis getwittert. Aber ich habe diesen Text geschrieben. Er ist mir nicht unangenehm.
Beratungsangebote
Wildwasser Marburg e.V.
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Frauennotruf Marburg e.V.
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Telefon: 06421 / 21438
E-Mail: frauennotruf-marburg(at)gmx.de
Website: www.frauennotruf-marburg.de
Angebot: Sexualisierte Gewalt und Grenzüberschreitungen im öffentlichen Raum, Stalking, Belästigung am Arbeitsplatz
Informationszentrum für Männerfragen e.V.
Sandweg 29
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Telefon: 069 / 4950446
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Website: www.maennerfragen.de
Angebot: Beratung bei sexualisierter Gewalt; auch Täterarbeit