Was bedeutet der Wirtschafts-Nobelpreis 2015 für die Wissenschaft, Prof. Hayo?
Medizin, Physik, Chemie, Literatur, Frieden, Wirtschaft – für besondere Erkenntnisse auf diesen wichtigen Gebieten werden alljährlich die Nobelpreise verliehen. Für Fachfremde ist es aber oftmals schwierig, zu verstehen, wofür die Preisträger*innen eigentlich ausgezeichnet werden. Auch wenn der Wirtschaftsnobelpreis nicht auf das Erbe von Alfred Nobel zurückgeht, so wird er doch gemeinsam mit den anderen Preisen verliehen. Um die Arbeit des diesjährigen Preisträgers, Angus Deaton, zu verstehen, haben wir mit jemandem gesprochen der davon tatsächlich Ahnung hat: dem Makroökonomieprofessor Bernd Hayo.
PHILIPP: Hallo Professor Hayo, wofür genau hat Angus Deaton denn seinen Nobelpreis nun bekommen?
Prof. Dr. Bernd Hayo: Also es waren im Wesentlichen drei Schwerpunkte seiner Arbeit, die das Preiskommitee dazu bewogen haben, den Preis an Angus Deaton zu vergeben. Das war erstens seine Arbeit zu Nachfragesystemen und Mikroökonometrie, zweitens der Zusammenhang zwischen Konsum, Einkommen und Makroökonomie, und drittens Haushaltsdaten und Entwicklungsökonomie.
Okay, ein bisschen konkreter bitte für Nicht-Wirtschaftswissenschaftler*innen. Fangen wir doch mal mit dem ersten Punkt an.
Also bei den Nachfragesystemen ist der entscheidende Punkt, dass es eine sehr reich ausgearbeitete mikroökonomische Theorie gibt. Wir haben einzelne Konsumenten, die unter Nebenbedingungen ihren Nutzen maximieren und die Frage ist nun: Können wir diese Theorie in empirisch beobachtbaren Daten überhaupt wieder finden? Und was man jetzt als einen Aspekt dieser Theorie in den Fokus nehmen kann, ist der der Nachfrage. Eine Nachfragefunktion ist der Zusammenhang zwischen dem Preis eines Gutes und der nachgefragten Menge. Je kleiner der Preis ist, desto größer ist die nachgefragte Menge. Dann gibt es aber, dadurch, dass ein mathematisches System darunter liegt, welches durch eine Reihe von Annahmen gespeist wird, zusätzliche Aspekte, die zu berücksichtigen sind. Ein sehr wichtiger Aspekt von Deatons Arbeit war es zu gucken, wie das theoretische System aufgebaut ist und welche Konsequenzen sich daraus für das empirische Schätzen von Nachfragesystemen ergeben. Angus Deaton ist es zusammen mit seinem Kollegen Mühlbauer gelungen, ein sehr viel allgemeineres System zu formulieren als die, mit denen vorher gearbeitet wurde. Dieses „Almost Ideal Demand System“ ist der Ausgangspunkt, der viele heutige Forschungen stark beeinflusst hat.
Aha. Und was ist nun genau ein Nachfragesystem?
Nachfragesysteme beruhen auf einer wichtigen Eigenschaft der mikroökonomischen Theorie, nämlich dass es nicht nur auf den eigenen Preis ankommt, wie viel ein Gut nachgefragt wird, sondern auch auf die Preise anderer Güter. Wir haben also einen Effekt eines anderen Preises auf die Nachfrage eines verwandten Gutes. Und somit haben wir am Ende auch nicht nur eine Gleichung, sondern auch welche für die Nachfrage nach den sogenannten „Substitutionsgütern“. Und diese werden dann in Nachfragesystemen zueinander in Beziehung gesetzt.
Okay, ich denke, ich verstehe. Dann kommen wir doch zum zweiten Feld von Deatons Arbeit, dem Zusammenhang von Konsum, Einkommen und Makroökonomie. Was hat das alles zu bedeuten?
Traditionell, mindestens seit Keynes, war es so, dass Konsum in der Makroökonomie mit Hilfe von makroökonomischen Daten studiert wurde (Anm. d. Redaktion: Mikroökonomie befasst sich mit wirtschaftlichen Entscheidungen/Vorkommnissen auf der Ebene von Individuen oder Unternehmen; Makroökonomie mit denen ganzer Sektoren oder Volkswirtschaften). Es kamen aber neuere Konsumtheorien auf, zum Beispiel Friedmans „Permanent Income Hypothese“. Diese beruht darauf, dass es nicht das laufende Einkommen ist, das den Konsum determiniert, sondern dass die Konsumenten unterscheiden zwischen ihrem langfristigen Einkommen und den kurzfristigen Abweichungen davon. Und nach dieser Theorie hätte es so sein müssen, dass der Konsum stark variieren sollte, weil die Konsumenten in die Zukunft schauen und das, was mit dem Einkommen passiert könnte, schon antizipieren. Das hätte zur Folge, dass der Konsum sich schon bewegt, bevor es das Einkommen tut. Dann wurde in die Daten geguckt und festgestellt – das ist ja gar nicht so. Deatons Ansatzpunkt war jetzt zu fragen: „Woran könnte das liegen? Daran, dass die Theorien falsch sind? Es könnte aber auch daran liegen, dass wir versuchen, die Theorien auf eine schlechte Art und Weise zu messen“. Er hat dann – anstatt die Konsumtheorien auf der Makroebene zu studieren – diese auf die Mikroebene, also auf die Ebene einzelner Individuen, gebracht und konnte somit zeigen dass das eben skizzierte Paradox gar nicht stark ausgeprägt zu sein scheint. Und dieser Perspektivwechsel, also dass man in der Makroökonomie auch auf individuelle Entscheidungen guckt, das ist etwas was auf der empirischen Seite stark durch Deatons Arbeit geprägt worden ist.
Das klingt nach einer starken Beeinflussung der wissenschaftlichen Praxis, aber das ist doch alles sehr trocken. Der dritte Bereich, Entwicklungsökonomie, klingt doch etwas spannender. An was genau hat Deaton da geforscht?
Im Bereich der Haushaltsdaten und Entwicklungsländer ist die entscheidende Frage, wie man die Wohlfahrt in Haushalten messen kann. Typischerweise wurde das bisher über das Einkommen gemacht. Nun ist es aber so, dass in vielen Entwicklungsländern Einkommensdaten extrem schwer zu ermitteln sind. Das hat zum Beispiel etwas damit zu tun, dass viele Leute dort Subsistenzwirtschaft (Anm. d. R.: Schattenwirtschaft) betreiben, wodurch überhaupt kein messbares Einkommen entwickelt wird. Anders ausgedrückt: Unter konventionellen Kriterien hätten dort viele Leute ein Einkommen von null. Aber das passt natürlich nicht zusammen, denn offensichtlich überleben viele, gestalten ihren Tagesablauf, können sogar sparen – also gibt es wieder ein Problem mit der Messung. Deatons Argumentation war, dass es unter diesen Umständen nicht sinnvoll sei, auf das Einkommen zu gucken, sondern auf den Konsum. Dieser ist nun einmal etwas, dass jeder zu sich nehmen muss. So lang ich lebe, muss ich konsumieren. Wenn ich aufhöre zu konsumieren, sterbe ich. Und über die Messung des Konsums der Haushalte durch die Mikrodaten konnte von Deaton nun so etwas wie eine Einkommensverteilung konstruiert werden. Mit Hilfe dieser Mikrodaten war er dann auch in der Lage, Wohlfahrtsvergleiche durchzuführen, die dann tatsächlich Aussagen über Einkommensverteilung und Ähnliches zuließen. Dieser Bereich in der Entwicklungsökonomie war eine lange Zeit eher theoretisch geprägt und ist dann unter anderem durch Deatons Arbeit zu einer sehr viel empirischeren Wissenschaft geworden, und dort eben insbesondere der Bereich von Armutsstudien, die für diese Länder natürlich von besonderer Bedeutung sind.
Ich denke, ich sehe jetzt ein bisschen klarer. Vielen Dank für das Gespräch!
FOTO: Toban B. auf flickr.com, CC-Lizenz