Was bedeutet der Literatur-Nobelpreis 2015 für die Wissenschaft, Prof. Bohn?
Medizin, Physik, Chemie, Literatur, Frieden, Wirtschaft – für besondere Erkenntnisse auf diesen wichtigen Gebieten werden, wie alljährlich, diesen Freitag, am 4.12., die Nobelpreise verliehen. Für Fachfremde ist es aber oftmals schwierig, zu verstehen, wofür die Preisträger*innen eigentlich ausgezeichnet werden. Für den Literaturnobelpreis hat PHILIPP einen Professor für osteuropäische Geschichte getroffen, um zu klären, weshalb die aus Weißrussland stammende Swetlana Alexijewitsch den renommiertesten Preis für Literatur des Planeten bekommen hat. Da das Institut für Slawistik an unserer Universität vor einigen Jahren geschlossen wurde, wurde sich für das Gespräch an einen Professor für Geschichte in Gießen gewendet: Prof. Dr. Thomas Bohn.
PHILIPP: Was ist das Besondere an Swetlana Alexijewitsch?
Prof. Dr. Thomas Bohn: Swetlana Alexijewitsch identifiziert sich mit den Opfern in der Geschichte, sucht Angehörige von Kranken, Verstorbenen, macht Interviews und verdichtet dies zu einem Gesamtbild. Angefangen hat sie damit schon unter Gorbatschow, in der Endphase der Perestroika hat sie ein Buch geschrieben über die Rotarmisten im 2.Weltkrieg und deren Erfahrungen. Sie ist damit einem Genre verpflichtet, das so ein sowjetisches Spezifikum ist: Die Dokumentarliteratur.
Ein paar Worte zur Biografie dieser Frau?
Sie war in der Ukraine geboren, hatte weißrussische Eltern und wuchs in der Sozialistischen Sowjetrepublik Belorussland auf, aber russisch-sprachig, und hat eine Ausbildung als Journalistin gemacht. Sie geht zu Menschen, macht Interviews, dokumentiert Ereignisse und versucht diese zu verdichten. Sie hatte beobachtet: Der Kult um den 2. Weltkrieg wurde in der Sowjetunion von Männern betrieben, fokussiert nur auf Helden, Schlachten. Sie meinte, sie „müsse weiblichen blick entgegenstellen, das Leiden der Menschen erfassen“. Sie hat sich gezielt mit denen auseinander gesetzt, die ausgeblendet wurden, alte Menschen, Kinder, Frauen, und hat dann gezeigt, wie der Krieg im Alltag auch eingewirkt hat, welche tragische Schicksale damit verbunden waren, auch in den Biografien der Familien, die sich damit auseinander setzen mussten. Dieses Experiment hat sie dann auch übertragen auf die Katastrophe von Tschernobyl. Interessant ist eben bei dieser Autorin einer Generation, die jetzt um die 70 Jahre alt ist, dass sich diese Reaktorkatastrophe überlagert mit dem Untergang der Sowjetunion – da ist halt nicht nur eine Lebenswelt weggebrochen, sondern auch dieses Unfassbare dieser atomaren Wolke geschehen, die tausende von Menschen bedroht hat. Der Leser fühlt sich emotional angesprochen und ihm wird gewissermaßen die Augen geöffnet, das Leiden wird spürbar – es sind sehr tiefschürfende Berichte und Schicksale über die Bewältigung der Nachfolgen durch die sogenannten Liquidatoren. Ein Heer von einer halben Million junger Männer, die mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren und natürlich gesundheitlich in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Eine Erfahrung, von der die Familien auch unmittelbar betroffen waren. Eine Bevölkerungsgruppe, die nicht nur in der Ukraine, nicht nur in Weißrussland, sondern auch in Russland marginalisiert wird. Die sind nicht in einem sozialen Netz aufgefangen, keine soziale Versicherung, keine Krankenversicherung kommt für diese Menschen auf, die, zu Perestroika-Zeiten, das Bewusstsein hatten, durch ihren Einsatz Europa gerettet zu haben. Denn es hatte durchaus noch eine größere Reaktorexplosion erfolgen können, wenn diese Horde der Liquidatoren den Kern nicht mit einem Mantel umgeben hätten und damit verhinderten, dass weitere Kernreaktionen aufgetreten sind. Das sind so die Horizonte, die Swetlana Alexijewitsch erfasst.
Erzählen Sie doch mal über ihre Rolle in Weißrussland, der letzten Diktatur Europas.
Es war lange Zeit schwierig, ihre Bücher in der Heimat zu veröffentlichen, sie ist aber politisch nicht so aktiv, dass sie sich der Opposition unmittelbar angeschlossen hat – erhebt aber immer wieder eine kritische Stimme gegenüber den derzeitigen reaktionären, autoritären Akzenten, die vom Präsidenten Lukaschenko gesetzt werden. Gehör findet sie immer wieder im Ausland, dies bringt sie vor dem Regime ein wenig in Misskredit, sodass die Anerkennung seitens des westlichen Europas in ihrer Heimat keine Bestätigung findet – vor allem deshalb, weil sie in russisch publiziert und ihre Muttersprache, Weißrussisch, hinten anstellt. Sie hat deutlich gemacht, dass sie russisch sozialisiert ist und Russisch als Hochsprache empfindet und Weißrussisch eher in der Provinz bei der einfachen Bevölkerung verordnet werden sollte – eine Einstellung, mit der sie bei der Opposition keine Pluspunkte einräumt. Sie ist natürlich bei Intellektuellen bekannt und wird gelesen, aber ihre Bücher sind auf dem Weltmarkt weiter verbreitet als in Russland, der Ukraine oder in Weißrussland.
Sehen Sie im Kontext der aktuellen diplomatischen Verstimmungen mit Russland einen gewissen aktuellen politischen Kontext der Verleihung?
Von russischer Seite besteht natürlich ein Interesse, dass ein russischer Schriftsteller zu Ehren kommt, der Romane schreibt und nicht eine weißrussische Autorin, die sich mit Gegenwartsproblemen auseinandersetzt und natürlich auch Kritik an den politischen Systemen äußert. Gemünzt in erster Linie auf die Sowjetunion, aber das Ganze lässt sich natürlich auf heutige Verhältnisse sehr leicht übertragen.
Glauben sie, dass sich in ihrer Heimat durch den Nobelpreis ihr Bekanntheitsgrad ändern wird?
Der Nobelpreis hat ein so großes Renommee, da wird sich garantiert was ändern. Die weißrussische Kultur- und Kunstszene erhält eine angemessene Würdigung, das ist schon eine ganz große Sache. Die Intellektuellen werden mächtig stolz drauf sein. Ich gehe davon aus, dass es nochmal ein Schwung geben wird, der nicht nur Swetlana Alexijewitsch sondern die ganze autonome Kulturszene in der Republik Belarus beflügelt.
Vielen Dank für das Gespräch.
FOTO: Dennis Krater auf flickr.com, CC-Lizenz
Als Science Guy zuständig fürs Wissenschaftsressort bei PHILIPP und studiert gerade Physik.
Liebt schottische Single Malts, Kafka und alles, was irgendwie mit Astronomie zu tun hat.
Beeindruckend; Robin Mentel schafft es in diesem Artikel seine Worte so zu verzaubern, dass der Leser das Gefühl bekommt, garnicht nicht genug von diesen Thema zu bekommen und sich denkt er währe in der Zeit von Zwetlana Alexijewitch. Noch dazu ebenfalls das Gefühl hat, das tun zu sollen was sie getan hat.
Well done, Robin Mentel 😉