Die Chinakompetenz und ich: Reflektionen aus meiner Zeit an der Nanjing Universität, China

Die Chinakompetenz und ich: Reflektionen aus meiner Zeit an der Nanjing Universität, China

Fotos: Ezra Kücken; Collage: Elija Ash Pauksch

Nach der Teilnahme am China-Kolleg der Studienstiftung des deutschen Volkes und einer Chinareise, verfolgte Ezra der Begriff der ‚Chinakompetenz‘. Dieser Artikel beschäftigt sich mit den Erfahrungen, die Ezra auf der Reise gesammelt hat, und der Frage: Wie China-kompetent ich denn jetzt eigentlich?

Nicht erst seit der im Juli 2023 veröffentlichten China-Strategie Deutschlands hat sich die ‚Chinakompetenz‘ als Schlagwort für eine Fähigkeit durchgesetzt, die alle entwickeln sollen, aber niemand so richtig beschreiben kann. Weniger als 0,1% der Deutschen sprechen Chinesisch. In Hessen gibt es mehr Professuren für alte Sprachen als für Sinologie, und während die öffentlich-rechtlichen zahlreiche Korrespondent*innen in Belgien vorweisen können, sind diese in China nur vereinzelt anzutreffen. Trotzdem ist China überall präsent, und die Bedeutung des Landes ist unbestreitbar. Wie kann also ein kompetenter Umgang mit ihm aussehen?

Diese Frage stellte sich auch das China-Kolleg der Studienstiftung des deutschen Volkes, an welchem ich im Wintersemester 2023/24 teilnehmen konnte. Nach einer einwöchigen Arbeitsphase in Berlin im Oktober 2023 und einer regelmäßigen Vortragsreihe während des Semesters, konnte ich im März 2024 gemeinsam mit etwa 50 Mitstipendiat*innen nach China reisen, um dort eine weitere Arbeitsphase sowie einen Sprachkurs zu besuchen. Meine Eindrücke, Ideen und die Frage, wie China-kompetent ich denn jetzt bin, darum soll es in diesem Beitrag gehen.

Am Anfang war das Sinologiestudium

Tatsächlich kann ich nicht von mir behaupten, als kompletter Neuling an die Beschäftigung mit China herangetreten zu sein, so hatte ich doch 2022 meinen Zwei-Fach-Bachelor in Geschichte und Ostasienwissenschaften abgeschlossen, in welchem ich mich schwerpunktmäßig mit chinesischer Geschichte auseinandergesetzt und auch Chinesisch gelernt hatte. Durch die Covid-19 Pandemie war es mir allerdings nicht möglich gewesen, ein Auslandssemester in China zu verbringen und das Land live und in Farbe mit meinem theoretischen Wissen verknüpfen zu können. Meine Chinesisch-Kenntnisse rosteten etwas ein und mein Fokus richtete sich auf meinen Master in Geschichte. Die Ausschreibung des China-Kollegs hätte also nicht passender sein können. Ich bewarb mich, wurde genommen und blickte voller Vorfreude auf eine intensive Zeit und interdisziplinäre Beschäftigung mit China.

Ein bisschen China in Berlin – Von Wen Cheng Nudeln und deutschen Chinaexpert*innen

Die erste einwöchige Arbeitsphase in Berlin war der ideale Einstieg in unseren langen Weg zur Chinakompetenz. In Arbeitsgruppen setzten wir uns, angeleitet von führenden Chinaexpert*innen Deutschlands, mit verschiedenen Themen von Klimawandel bis chinesische Arbeiter*innenbewegung auseinander, motiviert von interdisziplinären, kritischen Dialogen und immer weiterwachsenden Fragen und Diskussionsbedarf. Und auch wenn sich in Berlin in zahlreichen Restaurants und Shops ein bisschen China finden ließ, so wuchs bei uns während der Zeit in Berlin doch vor allem der Drang, endlich selbst nach China zu reisen und zu sehen, wie dieser komplexe, widersprüchliche Kosmos wohl in Wirklichkeit aussehen möge.

南京欢迎你 – Von AlipayDidi-Fahrten und der Nanjing Universität

Im März 2024 war es dann endlich so weit: Nach Monaten der Planung, Visumsbeantragung, digitaler Vorbereitung und der typischen Last-Minute-Packkrise ging es dann für mich von Madrid, da ich mich aktuell im Erasmus-Auslandsjahr in Spanien befinde, nach Shanghai und anschließend nach Nanjing. 14 Stunden Flug, eine panische Didi-Fahrt zum Hotel und ein paar Stunden Jetlag-bezwingenden (oder auch nicht) Schlaf später stand ich vor den Toren des Xianlin Campus der Nanjing Universität, mein Einladungsschreiben der Universität in der einen und meinen Koffer in der anderen Hand. 

Trotz meiner anfänglichen Nervosität erwies sich China bisher als überraschend weniger überwältigend: Die Atmosphäre war ruhiger als erwartet, da überall E-Autos fuhren. Es war grauer als gedacht, aber wahrscheinlich hatte ich bisher einfach vor allem Autobahnen und Flughäfen gesehen. Es war wärmer als gedacht, trotz des wolkigen Himmels. Der Campus war groß, weitläufig, Studierende fuhren Fahrrad. Es gab riesige Bibliotheken in modernen Gebäuden, große Parks, Cafés und Restaurants, sogar ein Konferenzhotel. Der Campus war eine kleine Stadt und für die nächsten Tage, bevor wir in den Stadtkern zum anderen Campus umziehen würden, nun mein Zuhause. Diese verflogen schnell und auch, wenn wir alle hungrig waren auf Komplexität und Überwältigung und Widersprüchlichkeit, so war ich doch dankbar für die kleine Blase des Xianlin-Campus, in welcher wir uns in den ersten Tagen bewegten, Vorträge hörten und unsere Gruppendynamik ausklügelten, Alipay und WeChat und VPN Profis wurden (oder uns zumindest dafür hielten) und unseren Jetlag hinter uns ließen.

Von Überwachungskamera und Kalligraphiebergen, Instagram-Anfragen und Ming-Gärten

Spätestens nach unserem Umzug auf den Gulou Campus der Nanjing Universität in der Innenstadt der Millionenstadt (9,3 Millionen Einwohner*innen im Vergleich zu Marburgs schnuckeliger Größe von knapp 78.000) wurde für mich klar, dass Chinakompetenz nicht umsonst eng verknüpft ist mit der Ausbildung von Ambiguitätstoleranz (die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeit oder Widersprüchlichkeit umzugehen), denn Chinas Widersprüchlichkeit hat meinen Alltag in Nanjing geprägt. Es ist seltsam, wenn man so viele Jahre damit verbringt, sich mit Chinas komplexer Politik und Gesellschaft auseinanderzusetzen und sich an der Widersprüchlichkeit der Datenlage Tag um Tag die Zähne ausbeißt, nur um dann als ersten Schritt im Weg zur Chinakompetenz zu merken: Nicht trotz, sondern genau mit dieser Widersprüchlichkeit gestaltet sich der Alltag in China. Die Kontraste zwischen modern und traditionell, westlich und chinesisch, Überwachung und Freiheit sind nicht dazu da, überwunden zu werden, sondern sind genau das, was China zu China macht. 

In den Tagen und Wochen in Nanjing gewöhnte ich mich an die gleichzeitige Präsenz von Überwachungskameras und Chines*innen, die trotzdem kritisch in der Öffentlichkeit ihre Meinung vertraten. An den VPN, den ich immer eingeschaltet ließ und die chinesischen Studierenden, die mich trotz des Verbotes von Meta-Apps sofort nach meinem Instagram-Account fragten. An die App Alipay, mit der ich Metrokarte, Bezahlsystem, Lieferservice, Nationalparktickets und alles Weitere mit einem Klick bereit hatte und die Gärten, in welchen sich Chines*innen traditionell angezogen für ihren WeChat-Account fotografieren ließen. Ich wanderte in den Huangshan Mountains inmitten atemberaubender Natur und lief durch Straßen gesäumt mit Hochhäusern, befahren mit E-Autos und bestückt mit AI-Robotern, die einem freundlichen den Weg in der Shopping Mall weisen oder auch für den Roomservice zuständig sind.

Keine Minute wurde mir China langweilig, es gab immer neue Dinge zu entdecken, zu lernen, zu entlernen und zu hinterfragen. Meine eigene weiße, europäische Brille musste ich dabei ganz besonders reflektieren, wenn ich in der Unitoilette Hocktoiletten vorfand und niemand Englisch sprach. All diese Dinge machen China nicht weniger modern oder fortschrittlich, sondern sind Expression eines Landes, welches sich trotz allem wirtschaftlichen Aufschwung gleichzeitig weigert, zu verwestlichen und trotzdem immer mehr westliche Aspekte aufnimmt. Statt Englisch zu sprechen, verbesserte sich also mein Chinesisch enorm und ich führte unzählige bereichernde Gespräche mit Taxifahrer*innen oder Studierenden. Ich ertappe mich im Nachhinein dabei, die Hocktoiletten zu vermissen, genauso wie den Komfort von Alipay, die günstigen und verlässlichen ÖPNV-Angebote und das grandiose Essen. Chinakompetenz bedeutet, auch von China lernen zu können.

Was mich am meisten überrascht hat, ist aber wohl, wie schwer es mir fiel, China wieder zu verlassen. In den drei Wochen, die ich dort war, habe ich so viele Eindrücke, Inspiration und Denkanstöße mitnehmen dürfen, sowohl aus den Vorträgen, Workshops und Gesprächen der Arbeitsphase und mit den anderen Teilnehmer*innen als auch durch den alltäglichen Umgang mit China selbst, in all seiner Widersprüchlichkeit und Komplexität. Es war beeindruckend, die Dynamik Chinas zu spüren, das akute Bewusstsein, dass China im März 2024 nicht das China sein wird, was mir bei meinem hoffentlich baldigen nächsten Besuch begegnen wird. China ist ein Land, das nicht stillsteht und mit jedem Tag weiter voranschreitet in eine Zukunft, für deren Deutung wir erstmal versuchen müssen, das aktuelle China zu verstehen. Meine Zeit in Nanjing hat mir vermittelt, dass dies das ist, was ich machen möchte: mein Chinesisch verbessern, mehr Zeit in China verbringen, mich mehr mit China auseinandersetzen und mir diesen immer noch abstrakten Begriff der Chinakompetenz zu eigen machen, um Teil einer Generation zu sein, die kritisch, informativ und auf Augenhöhe mit China umgeht.

Ein bisschen Platz für touristische Begeisterung

China ist natürlich nicht nur ein Land, an dem man seine Ambiguitätstoleranz und strategische Empathie testen kann, sondern auch ein Land, in welchem man begeistert reisen und lernen kann. Nanjing bietet unglaubliche viele besondere Sehenswürdigkeiten: Den Konfuziustempel und Markt, welcher zu unserer Zeit in Nanjing gerade ein Laternenfest feierte und dementsprechend wundervoll geschmückt war (ein großartiges veganes Buffet für 3€), das Nanjing Memorial, welches einen zentralen Teil der Geschichte Nanjings auf beeindruckend Weise darstellt und besonders für mein Geschichtsstudium eine Bereicherung war, den Mochou See, welcher voller Kirschblüten und chinesischer Pagoden der Lieblingsplatz zahlreicher chinesischer Rentner*innen war, den Purple Mountain mit seinen alten Ming-Palästen und noch mehr Kirschblüten behangenen Wanderwegen. Aber auch die unzähligen niedlichen Co-Working-Cafés, Street-Food-Stände, Bubble-Tea Läden, Karaoke Bars, Parks am Flussufer und der Unicampus selbst haben ständige meine Begeisterung für die Stadt sowie die Anzahl an Fotos auf meiner Kamera wachsen lassen.

Nicht weit von Nanjing entfernt kann man sich das wunderschöne Suzhou mit seinen Kanälen und Ming-Gärten, das metropolenhafte Shanghai mit dem ikonischen Bund-Ufer oder die malerischen Huangshan Berge mit ihren sportlichen Wanderwegen anschauen. Andere Teilnehmer*innen sind sogar bis nach Peking oder Hangzhou gefahren, allesamt beeindruckt von der Vielfalt Chinas und der Einfachheit, mit der man diese hunderte von Kilometern zwischen in kürzester Zeit per Schnellzug überwinden kann.

Und jetzt?

Jetzt bleibt mir nur noch zu hoffen, dass ich einen kleinen Einblick in dieses vielfältige und komplexe Land geben konnte. Vielleicht habe ich bei der einen oder anderen Person die Motivation geweckt, endlich den Chinesischkurs zu besuchen, den sie schon immer machen wollte, den Artikel zu lesen, der schon ewig auf ihrer Leseliste steht, oder den Podcast abzuspielen, der schon lange auf der Warteschleife ist. Hier unten findet ihr ein paar Empfehlungen meinerseits, wenn ihr noch einen geeigneten Startpunkt sucht. Für mich persönlich kann ich sagen, dass ich sehr dankbar bin für diese Chance, China persönlich erleben zu dürfen und mich schon sehr freue, hoffentlich bald wieder da sein zu können, mit noch mehr Fragen, noch mehr Ideen und noch mehr Neugierde auf das, was China zu bieten hat.


Ihr wollt an eurer eigenen Chinakompetenz arbeiten? Dann findet ihr hier einige Quellen, mit denen ihr anfangen könnt:

  • Podcast über Millennials in China: Chinese Whispers
  • Buch über Aktivismus und Forschung zu sozialen Konflikten und Bewegungen in China: Ruckus, Ralf et al.: China von unten. Kritische Analyse & Soziale Kämpfe. Gongchao, 2023. Kostenlos hier zu finden.

(Lektoriert von ror und hab.)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Wordpress Social Share Plugin powered by Ultimatelysocial
Instagram
Twitter