Familienkonflikte und politisches Statement: Anne Rabe liest aus Die Möglichkeit von Glück
Bild: Paula Herfurth, Nele Theis & Laura Schiller
An einem warmen Frühlingsabend haben sich zahlreiche Zuschauer*innen im TTZ im Südviertel eingefunden. Es müssen extra Stühle gestellt werden, der Andrang ist groß. Und das aus einem ganz bestimmten Grund: Das Marburger Literaturforum lädt zur Lesung der Autorin Anne Rabe aus ihrem Debütroman Die Möglichkeit von Glück ein. Der Roman war einer der sechs Shortlist-Romane des Deutschen Buchpreises 2023. Nach einigem Hin und Her und einer Planungsphase, die fast anderthalb Jahre dauerte, ist es heute, am 30. April 2024, nun endlich soweit und Anne Rabe kommt nach Marburg, um aus ihrem Roman zu lesen.
Anne Rabe reist mit dem Zug an und läuft vom Bahnhof zu Fuß zum Veranstaltungsort. Die Autorin erweckt einen entspannten Eindruck, trotz der vielen Zuschauer*innen. Sie freut sich darüber, dass so viele Menschen den Weg zu ihrer Lesung gefunden haben, schließlich könne man an einem Dienstagabend ja auch Netflix schauen oder bei dem schönen Wetter ein Bier draußen trinken. Stefan Jäger, Mitarbeitender des Literaturforums, stellt Rabe einleitend vor: Sie wurde 1986 geboren und studierte zuerst Germanistik und Theaterwissenschaft, bis sie sich schließlich dem Szenischen Schreiben widmete. Als Jäger dies erzählt, lacht Rabe, betont, dass ihr Germanistik-Studium nur ein Semester lang gewesen sei und gesteht: „Ich war aber auch nur wenig da.” Neben ihrer Arbeit als Dramatikerin ist sie auch als Drehbuchautorin tätig und schrieb unter anderem an der ARD-Serie Warten auf’n Bus mit. Die Möglichkeit von Glück ist Rabes Prosa-Debüt.
100 Jahre Familiengeschichte auf 384 Seiten: „Ich wollte von Anfang an alles schreiben.”
So beschreibt Anne Rabe die Entstehung ihres Romans, der sich um die Figur Stine dreht. Stine wurde 1986, also drei Jahre vor dem Mauerfall, geboren und wuchs im wiedervereinigten Deutschland als Teil der Nachwendegeneration auf. Ihr Leben ist von Menschen beeinflusst, die innerhalb der DDR gelebt, gearbeitet und ihre politischen Ausrichtungen gefunden haben. Durch den Mauerfall stellte sich das Leben aller Menschen auf den Kopf und Stine findet sich in einer Zeit wieder, die von Veränderung gekennzeichnet ist.
Als Stine selbst Mutter wird, beginnt sie, sich mit ihrer Vergangenheit und Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Sie hinterfragt das positive Bild der DDR, das innerhalb ihrer Familie gezeichnet wird, die physische und psychische Gewalt, die sie von ihrer Mutter erfährt, und den immer größer werdenden Rassismus innerhalb der Gesellschaft. Es etabliert sich eine Stimme der Nachwendegeneration, die Umstände reflektiert und sich nicht mehr mit dem Schweigen der Familie identifizieren will. Doch dabei stößt Stine auch immer wieder an Grenzen: „Bilde dir kein Urteil! Bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene!”
Anne Rabe selbst wurde wie ihre Protagonistin 1986 geboren. Sie schreibt aus einer Perspektive, die das System DDR nur noch in ihren Ausläufen erlebt hat. Dabei gibt sie Stine eine Stimme, die versucht, ihre familiären und die gesellschaftlich-politischen Strukturen zu verstehen. Woher kommen wir? Wie wurde diese Familie von den innerdeutschen politischen Umständen geprägt und die Familienmitglieder zu den Menschen, die Stines Kindheit beeinflussten? Stines Erleben ist dabei der rote Faden des Romans, der viele verschiedene Erzählstränge vereint.
„Die AfD kann mich nicht gut leiden.”
Im Publikumsgespräch mit der Autorin wird deutlich, dass die aktuelle politische Situation einer der ausschlaggebendsten Punkte war, der zur Entstehung des Romans geführt hat. Direkt zu Beginn stand für Rabe der Titel des Romans fest, der für die Nacht des Mauerfalls und die unzähligen Möglichkeiten steht, die sich für die ehemaligen DDR-Bürger*innen dadurch auftaten. Mit der Arbeit am Roman begann die Autorin im Jahr 2019, als sich der Mauerfall zum 30. Mal jährte. Dies regte sie zum Nachdenken über die Nacht vom 9. November 1989 an. So heißt es im Roman: „Die Zeit, in die ich geboren wurde, ist das, was man heute eine historische Zäsur nennt. Alljährlich im Herbst laufen über die Bildschirme die glücklichen Bilder des Mauerfalls. Die Menschen, die sich in die Arme fallen und kaum fassen können, dass das, was da gerade passiert, wirklich geschieht. Auf ihren Gesichtern Erleichterung und die Möglichkeit von Glück.”
Anne Rabe betrachtete 2019 die politische Situation und fand vor allem die Reaktionen im Osten auf geflüchtete Menschen besorgniserregend. Die Gewalt innerhalb der Gesellschaft wurde immer größer und sie begann sich zu fragen, wo diese herkommt. In Telefonaten mit Freund*innen wurde Rabe klar: Die Gewalt war schon immer da.
Neben der Arbeit an ihrem Roman, der sich unter anderem mit der Entstehung von Rassismus beschäftigt, engagiert sich Anne Rabe auch privat in politischen Kontexten. Sie besucht Demonstrationen, äußert sich öffentlich gegen Rechtsextremismus und versucht, ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen. Dabei ist sich Rabe auch bewusst, dass sie der politischen Rechten aufgrund ihrer Positionierung ein Dorn im Auge ist.
Eine Absage an die Ostalgie
Anne Rabe liest mit angenehmer Stimme knapp eine Stunde aus ihrem Roman und teilt immer wieder eigene Gedanken zu der Geschichte und den teilweise schwierigen Themen mit. Am Ende bekommt das Publikum noch die Möglichkeit, einige Fragen an die Autorin und ihren Roman zu stellen. Es wird schnell klar: Alle sind von Die Möglichkeit von Glück und der Autorin begeistert. Das Feedback der Zuschauer*innen ist durchweg positiv. Eine Frau spricht davon, sich selbst im Roman gut wiedererkannt zu haben, einer anderen kommt das vorherrschende Schweigen in der Familie bekannt vor. Rabes Roman bietet viele Anknüpfungsmöglichkeiten zur Identifikation.
Romane, die sich mit der DDR und Nachwendegeneration beschäftigen, werden in der aktuellen Literaturlandschaft immer präsenter. Eine neue Generation von Autor*innen widmet sich dem Themenkomplex und beginnt aus einer Perspektive über die DDR zu schreiben, in der diese nicht mehr aktiv miterlebt wurde. Rabe betont, dass es sich bei ihrem Roman nicht um einen Roman der „Ostalgie”, also einer nostalgischen Darstellung der DDR, handele. Es sei ein Versuch, dem aktuellen Diskurs über die DDR entgegenzuwirken. Auch Gewalt, egal ob innerhalb der Gesellschaft oder der Familie, ist immer noch ein Tabuthema. Für Anne Rabe hat es sich gelohnt, sich dieser Thematik zu widmen und eine Stimme zu finden. Dies zeigt sich auch in den Äußerungen des Publikums: Am Ende der Lesung bedankt sich eine Zuschauerin bei Anne Rabe für den Mut, ehemaligen DDR-Bürger*innen einen Spiegel vorzuhalten.
(Lektoriert von jok und lurs.)
studiert Literaturvermittlung in den Medien und ist seit Anfang 2024 in der Redaktion. Sie liest alles, was sie in die Finger bekommt, und schreibt am liebsten zusammen mit Paula.
studiert Literaturvermittlung in den Medien und ist noch ganz frisch bei PHILIPP. Sie schreibt am liebsten über Kulturereignisse und mit Nele zusammen.