Sneak-Review #194: Noch einmal, June
Mit seinem Regiedebüt „Noch einmal, June“ wagt, der bis dato für seine Kurzfilme bekannte, Neuseeländer JJ Winlove den Schritt ins große Kino. Ist ihm sein Debüt geglückt oder liegt bei Winlove eher in der Kürze die Würze?
Worum geht’s?
Seit einem schweren Schlaganfall leidet June Wilton (Noni Hazlehurst) an Demenz. Nur flüchtige Momente der Klarheit hinterlassen bei ihr in den letzten Jahren vereinzelte und diffuse Erinnerungen. Als sie jedoch eines Morgens in ihrem Pflegeheim aufwacht, ist sie wieder ganz die Alte und bei vollem Verstand. Die Ärzte erklären ihr, dass dieser Zustand maximal einige Stunden anhalten werde und sie doch am besten im Heim bleibe. Doch June denkt nicht daran und sucht bei der nächstbesten Gelegenheit das Weite. Außerhalb der Pflegeeinrichtung ist jedoch nichts mehr, wie es war. Ihre Familie sowie der Familienbetrieb sind ein einziger Scherbenhaufen. Mit dem Wissen, dass der Zustand der „Klarheit“ nur einige Stunden anhalten wird, versucht June im Wettlauf gegen die Zeit ihre Familie zu retten.
Kapitalorientierte Matriarchin
Der Film besticht schon in seinen ersten Szenen, indem er Junes von der Demenz erfasstes Bewusstsein, durch ein Verschwimmen von Gesichtern und Momenten eindrucksvoll darstellt. Ein handwerklicher Trick, den wir bereits aus dem Oscarprämierten Film „The Father“ von Regisseur Florian Zeller kennen.
Generell macht Winloves Film einiges richtig; dazu zählt auch die Charaktertiefe Junes, welche von Noni Hazlehurst großartig gespielt wird. Ist sie in den ersten Szenen noch stark von der Demenz gezeichnet und ergraut, erweist sich June nach dem Wiedererlangen ihrer geistigen Fähigkeiten als lebensfrohe, taffe und schlagfertige Frau. Schon beim ersten „richtigen“ Wiedersehen mit ihrer Tochter Ginny (Claudia Karvan), wird klar, dass sie ihre Rolle als Matriarchin der Familie Wilton nicht verloren hat. Auch Junes ausgeprägter Geschäftssinn wird alsbald wiederbelebt. Der erste Tag zurück bei vollem Bewusstsein und die Umsätze des Familienunternehmens scheinen schon wichtiger als das Verhältnis zueinander. Auch eine Demenzerkrankung scheint also nicht von den Fesseln des Kapitalismus zu befreien. So gestaltet Winlove den Charakter seiner Hauptfigur facettenreich und verzichtet bewusst auf eindimensionale Stereotypen.
Ketchup und Kontraste
Ketchup ist nicht nur ein Dip, an dem sich die Geister scheiden. Er eignet sich auch hervorragend, um den Prozess einer wiederkehrenden Demenzerkrankung abzubilden. Dies beweist Winlove in einer der kreativsten Szenen des Films. Die wiederkehrende Krankheit verändert nicht nur Junes Einstellung zur zuckrigen Tomatensauce. Ebenso offenbart sich, mit welcher Wucht Manieren, Wissen und soziale Kompetenzen von einem Moment zum nächsten durch die Krankheit verändert werden, wie beim familiären Abendessen deutlich wird.
Das Besondere an „Noch einmal, June“ ist deshalb auch, dass der Film es über große Teile zulässt, den echten und vielseitigen Charakter Junes kennenzulernen, nur um diesen dann wieder mit aller Härte an die Krankheit zu verlieren. Der Film hat damit durchaus Parallelen zu Roberto Benignis “Das Leben ist schön”. Auch hier nimmt man sich die erste Hälfte des Films Zeit, um uns Guido als fröhlichen und liebenswerten Charakter zu präsentieren, welcher dann in der zweiten Hälfte des Filmes dem ideologischen Wahn des NS-Regimes zum Opfer fällt. Diese Art des Verlustes ist besonders schmerzlich. Nicht nur für die Filmfamilie, sondern auch für die Zuschauer*innen vor der Kinoleinwand.
Kitsch und Kommoden
Neben dem berechtigten Lob ist JJ Winloves Film jedoch leider in weiten Teilen vorhersehbar und Beziehungen wirken oft plastisch. So auch die befremdliche Liebesgeschichte zwischen June und ihrem früheren Lover Danny (Pip Miller). Mit ihm hatte sie vor mehreren Jahrzehnten eine kurze Affäre, seitdem allerdings keinen Kontakt mehr. Auf der Suche nach ihrer alten Kommode, ein Geschenk von Danny, landen sie und ihre Kinder dann allerdings zufällig in dessen Wohnung. Später erfahren wir, dass Danny außerdem einen Job als Gärtner im Pflegeheim angenommen hat und die demente June dort täglich besucht. Diese Lovestory – die sich sehr nach Autorenzimmer anfühlt – hätte der Film meiner Ansicht nach nicht gebraucht. Die Stärken liegen eher im Porträt der Familie Wilton sowie den Beziehungen zwischen June und ihren Kindern. Auf diese Sidestory hätte Winlove also auch verzichten können.
Im Cabrio Richtung Freiheit
Wer einen etwas anderen Film über Demenz sehen möchte, dem kann “Noch einmal, June” durchaus ans Herz gelegt werden, denn dieser kommt fast ohne jeglichen Kitsch aus. Stattdessen punktet er sogar mit zahlreichen Lachern, wie auch im Marburger Kinosaal zu hören war. Wer also Lust hat, einer alten Frau im Cabrio dabei zuzuschauen, wie sie zu feinster Rockmusik in der australischen Sonne eine Landstraße entlang fährt und dabei den Marburger Winter mal so richtig vergessen möchte, der geht ab dem 17. Februar 2022 ins Kino.
„Noch einmal, June“ erscheint am 17. Februar 2022 in den deutschen Kinos.
Foto: JJ Winlove, HAPPY ENTERTAINMENT / 24 BILDER