Leben im Nationalsozialismus – Erinnerungen einer Zeitzeugin

Leben im Nationalsozialismus – Erinnerungen einer Zeitzeugin

Zum Tag des Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus fragt man sich automatisch, wie das Leben damals war – was hat man von dem Grauen mitbekommen? Wie waren die Familien in Deutschland davon betroffen? Und was sind die Zeitzeugen von damals bereit unserer Generation heute davon zu erzählen? Ich sprach mit einer Zeitzeugin, die ihre Erinnerungen mit mir teilte und mir erzählte, wie sie im Nationalsozialismus aufwuchs. 

An den Krieg und die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland kann ich mich gar nicht mehr so gut erinnern – ich bin ja erst in 1933 geboren. Aber ich kann dir erzählen, was ich noch für Erinnerungen an unser Dorf habe, wie wir gelebt haben und das wenige, was ich damals mitbekommen habe.

Für uns war es in der Schule ganz normal morgens im Kreis auf dem Schulhof den Hitlergruß zu machen. Andere beten halt oder singen und bei uns hieß es zu der Zeit nun mal „Heil Hitler“. Was wir gelernt haben? Das Übliche würde ich sagen, nichts Spezielles über den Krieg; aber oft in der Schule waren wir auch nicht. Zu der Zeit hatte man wenig, und wenn man Landwirtschaft hatte, so wie wir, musste man zu Hause helfen, wann es ging. Das ging vor. Ich lebte mit meinen Eltern und meinem Stiefbruder, Arthur, zusammen in einem Haus in der Mittelgasse. Mit Arthur habe ich aber leider nur die ersten 11 Jahre meines Lebens verbracht – er wurde kurz vor Weihnachten 1944 eingezogen. Meine Mama hat mir die Geschichte noch so oft erzählt, als er mit 17 den Brief bekam und meinen Eltern sagte, sie sollten ihn doch auf dem Heuboden verstecken. Er wollte absolut nicht in den Krieg. Ich meine, er war gerade mal 17. Jedoch sagte meine Mutter zu ihm, dass sie ihn leider doch sowieso finden würden und man muss ja bedenken, dass das verboten war; wir wären alle mit weggekommen, wenn uns jemand erwischt hätte. Unser Arthur ist dann in ´45 an der Ostfront bei Russland gefallen – man hat uns später gesagt, er sei erschossen worden, als er beim Essen kurz seinen Stahlhelm abzog.

Arthur, der Stiefbruder, bevor er in den Krieg eingezogen wurde

„Ich glaube keine Familie hier blieb davon verschont“

In meiner Familie sind etliche während des Kriegs gestorben. Ich glaube keine Familie hier blieb davon verschont. Mein Cousin Ernst schrieb uns damals einen Brief, den habe ich hier noch. Datiert ist er auf den 11.1.1944 in Russland. Er schreibt, es sei sehr kalt und man habe so wenig Sachen zum Anziehen. Außerdem sei Russland so weit weg. Kurz danach ist er gefallen – er war damals auch erst um die 20. Auch eine meiner Cousinen und ihre Tochter sind damals umgekommen, allerdings bei dem Bombenanschlag auf Kassel. Ihr Mann und Sohn waren zu der Zeit in der Kur, denen ist nichts passiert.

Brief des gefallenen Cousins Ernst aus Russland von der Front

Viele der in Kassel Ausgebombten kamen danach hierher. Zu uns kamen die Schwester meines Vaters und ihre zwei Töchter. Wir hatten ja nicht viel Platz, also habe ich seitdem mit meiner Cousine in einem Bett geschlafen. Vom Staat bekamen die Betroffenen zwar etwas Geld, aber Lebensmittel und Kleidung bekamen sie von uns. Wir haben geteilt, was von unserer Landwirtschaft abfiel.

Täter in der Familie

Jedoch hatten wir in unserer Familie natürlich nicht nur Opfer. Auch wenn ich das selber nicht so sehe, weil mein Onkel Albert und sein Sohn immer so gut zu mir waren, darf man nicht vergessen, dass auch die beiden in Parteiangelegenheiten verstrickt waren. Mein Cousin war bei der SS und arbeitete auf dem Regierungspräsidium in Kassel. Mein Onkel war Polizist – ein ganz Korrekter und Strenger. Was ich weiß, ist, dass er für die polnischen Zwangsarbeiter hier verantwortlich war. Einmal wurde eine junge Magd aus dem Nachbarort von einem der Polen geschwängert, woraufhin dieser aufgehängt wurde und die restlichen Zwangsarbeiter als Abschreckung zugucken mussten. Als der Krieg dann zu Ende war, kamen die Polen und haben nach ihm gesucht. Mein Onkel wurde wohl deshalb vorsichtshalber versteckt und konnte auch später nicht angeklagt werden, weil es an Beweisen fehlte.

Onkel in Polizeiuniform

Zu der Judenverfolgung kann ich dir allerdings nicht wirklich was sagen. Was man durch Dokumente noch weiß, ist, dass meine Eltern unseren Nachbarn ihr Haus am 19.04.1939 abkauften und dafür dann nach dem Krieg in 1950 nochmal bezahlen mussten. Diese Wiedergutmachung wurde von den drei ausgewanderten Kindern von New York aus betrieben. Neben uns wohnte eine jüdische Familie. Die Jüngeren sind in 1938 schon emigriert. Die Älteren waren dafür allerdings wohl zu alt. Ich kann mich noch erinnern, dass meine Mutter eine Zeit lang immer Essen nach drüben brachte. Die Juden durften ja irgendwann keine Geschäfte mehr führen und konnten sich keine Lebensmittel mehr leisten. Allerdings wurde meine Mutter irgendwann angeschwärzt und man drohte ihr, sie wegzubringen. Der Rest der jüdischen Familie wurde dann in 1942 in der Nacht abgeholt. Wir sprachen da aber nicht drüber, weder zu Hause noch irgendwo anders. Da war ich gerade 9 Jahre alt und hab das gar nicht verstanden, was da passiert. Allerdings gab es eine Jüdin, die weder emigrierte noch deportiert wurde. Rosa hieß sie und war verheiratet mit einem Christen. Deswegen konnte sie wohl bleiben. Aber auch viele andere Anwohner waren auf ihrer Seite. Einmal war es wohl so, dass ihr Mann nicht zu Hause war und die Polizisten deshalb die Chance nutzen wollten, um sie zu deportieren. Dann haben sich zwei Männer aus unserem Dorf mit ihren Gewehren neben sie ins Bett gelegt und die Polizisten haben sich tatsächlich nicht getraut, was zu unternehmen. Rosas Tochter ist mit mir aufgewachsen und ihre Familie wohnt heute noch hier.

Foto: Zeitzeugin mit ihrer Großmutter in den 1930er Jahren

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