Zwischen politischem Aktivismus und ethischer Grenze – Die Kontroverse um SDS und BDS

Zwischen politischem Aktivismus und ethischer Grenze – Die Kontroverse um SDS und BDS

Prompt: Rebecca Größ-Ahr

Im November 2023 richtete der Präsident der Universität Marburg einen dringenden Appell an Studierende und Beschäftigte, sich für den zunehmenden Antisemitismus und die deutschlandweit gestiegenen Gewaltakte gegen Jüdinnen und Juden zu sensibilisieren. „Es geht um das konsequente und unmissverständliche Handeln gegen jede Form von Antisemitismus, gegen das Schüren von Angst in unserer Universität, auf unserem Campus und in unserer Stadt”, betonte er.

Zur gleichen Zeit bezeichnete Daniel Navon vom Verband Jüdischer Studierender Hessen die Universitäten Kassel und Marburg als Hotspots für antisemitische Vorfälle. Die Tatsache, dass im Jahr 2023 Studierende an einer deutschen Universität dazu aufgefordert werden müssen, ihre jüdischen Mitstudierenden vor Diskriminierung zu schützen und sich nicht am wachsenden Antisemitismus zu beteiligen, wirft ernsthafte Fragen auf.

Auch veröffentlichte die Hessenschau im August 2023 einen Expertenbericht zur Muslimfeindlichkeit in Deutschland. Der Bericht betont, dass antimuslimischer Rassismus nicht nur eine Zunahme von Gewalttaten, sondern auch Vorurteile und alltägliche Ausgrenzung im Leben vieler Muslime in Hessen umfasst. Unterschiedliche Themen, doch teilen diese sich zur Zeit einen aufgeheizten Diskurs.


Die aktuelle politische Lage zwingt bisweilen unpolitische Menschen und Wahl-O-Mat-Begeisterte zu einer Einordnung des komplexen Nahost-Konflikts. Historische, religiöse, kulturelle, politische und territoriale Dimensionen werden oft durch Emotionalisierung und subjektive Einordnung verdrängt. Auch vor Marburg macht dieser Konflikt keinen Halt. Die komplexen globalen Akteure werden trotz ihrer vielseitigen Verstrickungen zu einem Zweifrontenkrieg degradiert.

Boycott, Divestment and Sanctions (BDS): Der BDS ist eine transnationale politische Kampagne, die darauf abzielt, den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch zu isolieren. Ihre Ziele, die im Jahr 2005 beschlossen wurden, beinhalten das Ende der „Okkupation und Kolonisierung allen arabischen Landes“ durch Israel, die Anerkennung des „Grundrechts seiner arabisch-palästinensischen Bürger auf volle Gleichheit“ und die Förderung des „Rechts der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr“. Die Kampagne wurde von 171 palästinensischen Organisationen unterzeichnet und erhält Unterstützung von NGOs und Prominenten (Quelle: BDS Call).

Führende Vertretende des BDS bekunden öffentlich ihre Ablehnung des Existenzrechts Israels und setzen sich für die Abschaffung des Staates ein. Dadurch gerät die Organisation stark in die Kritik, da ihr israelfeindliches Verhalten von vielen nicht bloß als politische Opposition angesehen wird, sondern vielmehr den Verdacht des Antisemitismus aufkommen lässt. Mehr zu der Kritik an der Kampagne hier oder im Verlauf des Artikels.

Im Jahr 2019 waren der Bundestag, die Hochschulrektorenkonferenz und das Studierendenparlament in Marburg einer Meinung: Der BDS verfolgt eine eindeutig antisemitische Agenda. Doch im Jahr 2023 ändert sich diese Entscheidung. Die Wahl des Studierendenparlaments in Marburg, den alten Antrag – trotz früherer Ablehnung und der Einstufung durch den Bundestag als antisemitisch – zu entkräften und den BDS durch Veranstaltungen, Vorträge und die Finanzierung von Werbemitteln wieder zuzulassen, hat dazu geführt, dass PHILIPP sich die Hintergründe dieses Beschlusses genauer ansieht.

Hierfür ergab sich die Möglichkeit, Gespräche mit Leonie vom Jungen Forum Marburg sowie zwei Vertreterinnen der Hochschulgruppe der Partei dieLinke, dem SDS Marburg zu führen. Anhand der geschilderten Perspektiven wurde der Versuch unternommen, ein tieferes Verständnis für die komplexen und oft schmerzhaften Spannungen zu entwickeln, die entstehen, wenn Fragen des Antisemitismus und des antimuslimischen Rassismus aufeinandertreffen.

Die BDS-Kampagne gilt als sehr umstritten und löst seit ihrer Gründung hitzige Debatten aus. Einige sehen sie als ein harmloses politisches Instrument für eine gerechtere Welt, während andere darin eine antisemitische Stoßrichtung erkennen.

Angesichts der anhaltenden Kontroversen und tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten rund um die BDS-Kampagne und ihre potenzielle Verbindung zum israelbezogenen Antisemitismus stellt sich die Frage, wie das Studierendenparlament Marburg trotz dieser Bedenken den BDS als Informationsquelle akzeptierte. Im Bemühen, die verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, gestaltete sich die Recherche zu diesem Thema als äußerst anspruchsvoll. Trotz zahlreicher Einwände und der Unsicherheit, die in diesem Diskurs herrscht, zeigen einige Gruppen Bereitschaft zur Diskussion, obwohl die Mehrzahl der Angefragten Besorgnis über eine offizielle Stellungnahme zeigte. Während das Junge Forum keine Scheu vor öffentlichen Plattformen zeigt, wirken der SDS und die Seebrücke eher zurückhaltend. Schließlich signalisiert der SDS Bereitschaft zu einem Interview mit zwei Vertreterinnen, die ihre vorbereiteten Statements aus dem Plenum mitbringen.

Dieser Artikel beabsichtigt weder den grausamen Nahost-Konflikt ausführlich zu beleuchten noch eine Vermittlung in den innerlinken Differenzen Marburgs vorzunehmen, sondern vielmehr eine Aufstellung der Ereignisse rund um den lokalen Konfliktgegenstand des Nahostkonflikts und dessen repräsentative Parteien in Marburg rund um den 7. Oktober, den Angriff auf Israel durch die Hamas und die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen beider Parteien seither.

Abfolge der Geschehnisse

  • Mai 2019: Der Bundestag nimmt einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen an. Der Bundestag verurteilt somit den Aufruf zum Boykott sowie jegliche finanzielle Unterstützung für Organisationen, die das Existenzrecht Israels infrage stellen.
  • 23.10.2019: Der Vorstand des 55. Studierendenparlaments verkündet in Form des Beschlusses eines Antrages, dass das Studierendenparlament der Philipps-Universität Marburg sich klar gegen die Bestrebungen der BDS-Kampagne positioniert und alle Bestrebungen dieser in Form von Flyern, Plakaten und Veranstaltungen auch künftig unterbinden wird. Weiterhin werden Veranstaltungen mit BDS-nahen Referent*innen fortan nicht mehr finanziell durch den AStA oder durch Räumlichkeiten, Druckmöglichkeiten und weiteres unterstützt. Auch fordert das Studierendenparlament alle seine Kooperationspartner*innen auf, ebenfalls eine Zusammenarbeit auszuschließen.
  • 19.11.2019: Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) unterstützt die Resolution Gegen BDS und jeden Antisemitismus des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, des freien Zusammenschlusses von Studierendenschaften, des AStA der Technischen Universität Darmstadt und des AStA der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt sowie parteinaher Hochschulgruppen wie den Juso Hochschulgruppen, den Liberalen Hochschulgruppen, Campus Grün und dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten. Die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), welche auch durch die Bundesregierung Anerkennung findet, bietet eine klare Grundlage zum Erkennen von Judenhass und ist damit ein wichtiges Werkzeug bei seiner Bekämpfung. Dabei wird auch der israelbezogene Antisemitismus berücksichtigt.
  • 21.04.2023: Die Bombendrohung zum Eid-Fest in Marburg erschüttert die muslimische Gemeinschaft.
  • Juli 2023: Wahlergebnisse der Hochschulwahlen: SDS mit 23.4% zweitstärkste Kraft im 58. Studierendenparlament Marburg.
  • 24.04.23: Die plötzliche Raumkündigung der Universität Marburg für die Veranstaltung Antimuslimischer Rassismus des SDS und der Seebrücke führte zu einer spontanen Unterstützung durch die LINKE Marburg, die ihr Büro zur Verfügung stellte. Die Veranstaltung mit Ramsis Kilani war gut besucht, auch Landtagsabgeordnete sollen vor Ort gewesen sein.
  • 17.05.23: Antrag des SDS auf Rücknahme des Beschlusses zur Streichung des BDS wird angenommen. Der Antrag trägt den Titel Antimuslimischen Rassismus ernst nehmen – Rassismus in Universität und Stadt bekämpfen!
  • 15.10.23: Offener Brief von Shalom Marburg: ,,Die Tatsache, dass der SDS als vermeintlich progressive Linke gemeinsam mit den BDS und Hamas-Befürwortern [wie Ramsis Kilani] operiert, ist erschreckend […]. Wir fordern eine klare Positionierung, Entschuldigung und sichere Räume für jüdische Studierende. ‘‘
  • 19.10.2023: Offener Brief des Jungen Forum Marburg mit Screenshots der Social Media-Beiträge Ramsis Kilanis, der die Ermordung, Entführung und Vergewaltigung israelischer Zivilist*innen als ,,Befreiungsschlag’’ und ,,Balsam für die Seele’’ betitelt. Das Junge Forum habe SDS und Seebrücke eine Woche Zeit gegeben, sich von den Aussagen zu distanzieren, nachdem dies nicht geschah, fordern sie die Einstellung jeglicher Aktivität von SDS und Seebrücke.
  • 13.11.23: Stellungnahme des SDS Marburg ,,Deeskalation ist das Gebot der Stunde’’: ,,Weil wir […] Besatzung und Krieg verurteilen, fordert das Junge Forum in Marburg den SDS und die Seebrücke auf, seine gesamte Arbeit einzustellen und versucht [damit] die Marburger Linke zu spalten […] Die fanatische Abwehr jeglicher Kritik wird häufig mit dem Existenzrecht Israels begründet.’’

Der Fall Kilani

Aufgrund der Drohung eines Angriffs mittels dreier Bomben während der geplanten Zuckerfestfeier im Georg-Gaßmann-Stadion im April 2023 musste eine Veranstaltung abgesagt werden, bei der Marburger Muslime und Muslimas das Ende des Ramadan feiern wollten. Ein rassistisch motivierter Angriff auf Marburgs Islamische Gemeinde. Und dies nur wenige Tage bevor der SDS und die Seebrücke einen Redner zu dem Thema antimuslimischen Rassismus eingeladen haben, der in den Universitätsräumen eine Veranstaltung abhalten sollte.

Prompt: Rebecca Größ-Ahr

Bei diesem Redner handelt es sich um Ramsis Kilani, ein politischer Aktivist aus Berlin und Mitglied der LINKEN, der einen Teil seiner Familie durch israelische Bomben im Gaza verlor und sich jetzt gegen Rassismus und gegen die Anerkennung Israels einsetzt. Die Wahl fiel laut SDS-Vertreterinnen auf Kilani, da dieser selbst SDS-Mitglied war und sich schnell bereit erklärte, nach Marburg zu kommen und über ein Thema zu sprechen, das SDS und Seebrücke intensiv beschäftigt. „Wir haben Ramsi auch nicht eingeladen wegen seiner Position zum Nahostkonflikt oder wegen seiner Familiengeschichte. Wir haben ihn als Redner zu dem Thema antimuslimischer Rassismus eingeladen“, sagt der SDS.

Der Aufschrei ist groß, Kilani hat in der Vergangenheit und Gegenwart wiederholt Inhalte verschiedener umstrittener NGOs geteilt und gelobt sowie Unterstützung für die anti-israelische Organisation BDS bekundet. Das Junge Forum Marburg beginnt mit ausführlicher Recherche zu dem Referenten und seinen Äußerungen, denn „Kilani hat in Interviews klare Aussagen gemacht, die Terrorismus zu verherrlichen scheinen“, so Leonie vom Jungen Forum. Vorerst wird der direkte Kontakt zu den veranstaltenden Gruppen umgangen, denn es wurde eine „Liste dieser Aussagen erstellt und […] an den [AStA] geschickt. [Darauf] kam keine [angemessene] Reaktion, also haben wir uns auch an die Uni gewandt“, schildert Leonie weiter.

Die Universität prüft unabhängig die Vorwürfe und kommt zu dem Schluss, dass die Unterstützung dieser Veranstaltung nicht mit den Beschlüssen gegen den BDS und der Haltung der Universität vereinbar ist [siehe Zeitstrahl Punkt 1-3]. Sie entzieht der Veranstaltung die Räumlichkeiten. Im Interview schildert eine Vertreterin des SDS: „Ich habe ehrlich gesagt nicht erwartet, dass die Universität die Veranstaltung absagt. Der Nahostkonflikt war nie unser Fokus, wir haben in den letzten Jahren keine Veranstaltungen dazu gemacht. Wenn der Vortrag sich um BDS in Israel gedreht hätte, wäre das vielleicht vorhersehbar gewesen. Aber gerade bei antimuslimischem Rassismus und nach der Bombendrohung war das komplett überraschend.“

Ein bereits bekannter Diskurs entflammt: Der anhaltende innerlinke Streit um Antisemitismus versus antimuslimischen Rassismus. Das Junge Forum und die Universität werden von Seiten der Veranstaltenden beschuldigt, sich um die Sabotage der Veranstaltung bemüht zu haben, weil der eingeladene Redner Palästinenser sei. Die Veranstaltung findet planmäßig im Parteibüro der LINKEN statt, verläuft ruhig und das Thema des Nahostkonflikts bleibt trotz Kilanis persönlichem Bezug unberührt in seinem Vortrag.

Trotzdem hinterlassen seine früheren Äußerungen über die potenziellen Vernichtungsfantasien Israels einen unangenehmen Eindruck. Leonie erläutert: „Man lädt solche Personen dann eben nicht ein und setzt klare Grenzen. Besonders, wenn es Themen sind, die leicht in den Vortrag oder die Diskussion übergehen können. Man sollte sich das gut überlegen und ansonsten muss man akzeptieren, dass man für diese Entscheidungen öffentlich kritisiert wird. Wir haben keine Störungen bei der Veranstaltung verursacht, sie nicht unterbrochen oder Sitzblockaden vor dem Parteibüro organisiert. Die Veranstaltung fand statt, wenn auch nicht wie geplant im Uniraum, da die Universität dies nicht erlaubte.“ Im darauffolgenden Monat bezeichnet der SDS in einem Antrag an das Studierendenparlament die „Raumkündigung der Veranstaltung Antimuslimischer Rassismus“ als Ausdruck des systematischen Rassismus gegenüber muslimisch gelesenen Menschen bis tief in die Stadtgesellschaft und die Universität hinein.

Muslimfeindlichkeit und Antimuslimischer Rassismus
In deutschsprachigen Publikationen werden die Begriffe Islamophobie und Islam-/Muslimfeindlichkeit oft synonym verwendet, obwohl sie je nach Kontext unterschiedliche Aspekte betonen – entweder Ängste oder gewaltvolle Feindseligkeit. Dies führt zu vielschichtigengesellschaftlichen Ausgrenzungs- und Diskriminierungsprozessen,die sich diskursiv, individuell, institutionell oderstrukturell vollziehen und bis hin zu Gewaltanwendung reichen können. In der GMF-Klassifikation werden sie aufgrund ihres Fokus auf Religion und religiöse Praxis von klassischem, biologischem Rassismus getrennt behandelt. 2022 verzeichnete das Lagebild zu antimuslimischem Rassismus 898 Übergriffe,
wobei ein Viertel der Vorfälle sich im öffentlichen Raum ereigneten und Frauen mit Hijab besonders betroffen waren. Bildungseinrichtungen und die Arbeitswelt waren hierbei die häufigsten Schauplätze für Diskriminierung.

Unabhängiger Expertenkreis Muslimfeindlichkeit 2023

Dieser Antrag wird angenommen und der SDS betont, dass der Bezug zwischen Ramsis Kilani und BDS genutzt wurde, um rechtliche Beschlüsse zu ermöglichen, die seinen Ausschluss als BDS-Unterstützer und die Verweigerung anderer (Sprech-)Funktionen ermöglichen sollten. „Das ist natürlich sehr stark einschränkend. Wenn wir jetzt sagen würden, wir laden Judith Butler hier nach Marburg ein, dürfte sie dementsprechend auch nicht mehr sprechen. [Die Vorgehensweise ist] dann, Personen in die BDS-Nähe zu setzen und ihnen damit die Räume zu entziehen, was extrem einschränkend und überhaupt nicht akzeptabel ist“, so der SDS. Der Verband Jüdischer Studierender Hessen erhebt zuletzt schwere Vorwürfe gegen Judith Butler, indem er ihr antisemitische und terrorverherrlichende Äußerungen sowie Zweifel an systematischem sexuellem Missbrauch israelischer Frauen durch die Terrororganisation vorwirft.

Leonie vom Jungen Forum Marburg erklärt: „Man muss akzeptieren, dass öffentliche Kritik Teil des Prozesses ist, wenn man Veranstaltungen mit kontroversen Rednern organisiert. Der Grund, warum der Raum entzogen wurde, war nicht, dass er Palästinenser ist oder nicht, [oder] dass er über antimuslimischen Rassismus spricht, sondern seine Positionierung, seine terrorverherrlichenden Aussagen, die besonders nach dem 7. Oktober deutlich wurden. In Reaktion darauf, dass auf grausamste Art und Weise 1200 Zivilisten und Israelis umgebracht wurden, wirklich gefoltert wurden, [dazu] sagte er, das sei ‚Balsam für die Seele‘.“

Das Junge Forum sammelt diese Aussagen Kilanis auf Instagram und X und sendet sie mit der Forderung einer Stellungnahme an SDS und Seebrücke. Nachdem innerhalb einer Woche keine Reaktion erfolgte, fordern sie in einem öffentlichen Statement die Einstellung jeglicher Aktivität von SDS und Seebrücke.

Der SDS erklärt hierzu: „Was in diesem Statement [vom Jungen Forum] stand, tut mir leid, aber es war wirklich krass. [Das Junge Forum meinte], ‚Wie kann man sich jetzt nicht gegen die Hamas positionieren?‘ Wir fühlen uns gerade nicht verpflichtet, [darauf] zu reagieren, weil die Art und Weise, wie [auf uns zugegangen wurde], jeden Rahmen gesprengt hat – das ist einfach zu viel.“

Kurz darauf veröffentlicht auch die Jüdische Hochschulgruppe Shalom Marburg einen offenen Brief, in dem sie eine Entschuldigung und einen sicheren Raum für jüdische Studierende fordern, der nach ihrem Maßstab nicht mehr gegeben ist.

Der SDS zeigt sich besorgt: „Also wir wollen keine Atmosphäre in der Universität schaffen, die dafür sorgt, dass sich irgendwer unsicher fühlt.“ Aber „es ist ein ziemlich moralisierender Diskurs, wenn man Leuten vorwirft, sie seien Antisemiten. Keiner von uns möchte als Antisemit bezeichnet werden, das wäre in unserer Gruppe absolut nicht akzeptabel. Einen solchen Vorwurf zu erhalten, setzt die Gruppe stark unter Druck. Man muss sich wirklich damit auseinandersetzen, und das tun wir auch.“

Doch was macht den BDS eigentlich so problematisch? Leonie gibt uns hierfür einen Blick hinter die Kulisse der Kontroverse:


Leonie erklärt: „Ich meine, zum einen kann man da auf die Gründer von BDS mal gucken, was die so alles sagen, und dann wird es relativ klar. […] Also die Streichung Israels, die Ausradierung Israels von der Landkarte. […] Daraufhin, dass Israel nicht mehr als Schutzraum für Jüdinnen und Juden, für von Antisemitismus Betroffene weiterexistieren soll. Und das sieht man ja auch bei manchen Aktionen, die dann so als Erfolge verkauft werden. Ein Erfolg war, dass 900 Palästinenserinnen und Palästinenser arbeitslos sind und Leute, die bei SodaStream gearbeitet haben, [Bewohner] in den Dörfern, die da gearbeitet haben, haben sich auch öffentlich gegen diese BDS-Kampagne ausgesprochen.“
Aufgrund einer aggressiven Kampagne der BDS-Bewegung schloss die Firma SodaStream ihr Hauptwerk in einer israelischen Siedlung. Dadurch verloren hunderte palästinensische Angestellte ihre Arbeitsplätze.

Leonie führt hierzu weiter aus: „Sie erzielen keine Erfolge und die, die sie erzielen, schaden vor allem auch Palästinensern und Palästinenserinnen. Aber was BDS auch vertritt, ist, dass man ja keine Normalisierung hat, das heißt keine Projekte [in denen] palästinensische und israelische Kinder gemeinsam Fußball [spielen]. Keine Verständigung, kein Austausch, kein Miteinanderreden und eine absolute Antihaltung. Auf diese Art und Weise ist auf jeden Fall keine Beruhigung des Konflikts, kein sich Annähern, kein Kennenlernen, kein gemeinsames Leben und Abbau von Hass und Stereotypen möglich. Auch eine Zweistaatenlösung wird von ihnen explizit abgelehnt. Der BDS fordert, dass auf kultureller Ebene keine Normalisierung stattfindet, indem jüdische Künstlerinnen bei Kunstfestivals oder kulturellen Ereignissen ausgeschlossen werden. Ein Beispiel ist ein jüdischer Musiker aus den USA, der als einziger aufgefordert wird, sich zu Israel zu positionieren. [Und dessen Teilnahem auf einem Festival verwehrt werden sollte, wenn er das nicht tut.] Diese Praxis schließt aktiv Jüdinnen und Juden weltweit aus und manifestiert einen Antisemitismus, der nicht nur Israelis betrifft, sondern sich gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger weltweit richtet. An Universitäten, insbesondere auf dem Campus, führt dies zu mehr Gewalt und verbreitetem Antisemitismus gegen jüdische Studierende. Die Gefahr von BDS liegt nicht nur in den wirtschaftlichen Sanktionen, sondern auch in der Förderung antisemitischer Ausdrucksformen und der Schaffung einer feindseligen Atmosphäre. Daher sollte man sich gegen BDS aussprechen, nicht wegen des Erfolgs wirtschaftlicher Sanktionen, sondern wegen der damit verbundenen antisemitischen Tendenzen und der negativen Stimmung, die sie erzeugen.

Auch erzählt sie von der Geburtsstunde des BDS, der Weltkonferenz gegen Rassismus, eine NGO-Konferenz In Durban, Südafrika. Während der Veranstaltung fand ein Demonstrationsmarsch von Palästinensern statt, an dem zahlreiche Menschen anderer Nationen teilnahmen. In der Menschenmenge wurden Schilder mit antisemitischen, antijüdischen und antiisraelischen Sprüchen, wie etwa „Hitler hätte den Job beenden sollen“, getragen. Auf weiteren Flyern war ein Bild von Hitler zu sehen mit den Worten: „Was wäre, wenn ich gewonnen hätte?“ 
























Zwischen Flaggen und Furcht

Jüdische Personen empfinden zum Teil ein Gefühl der Bedrohung, wenn sie mit palästinensischen Flaggen konfrontiert werden. Antisemitische Parolen auf Demonstrationen führen dazu, dass sogar friedliche Gedenkveranstaltungen für Opfer im Gazastreifen unterbrochen werden oder wie zuletzt in Hamburg, Berlin und Münster durch Gewaltanwendung der Polizei enden. Bei israelischen Mahnwachen ist ein Polizeiaufgebot zur Sicherung der Veranstaltung ebenso notwendig wie Stacheldraht an den Zäunen eines jüdischen Gymnasiums in Berlin und kugelsicheres Glas an Synagogen.

Prompt: Rebecca Größ-Ahr

Muslimische Frauen werden angepöbelt, insbesondere wenn sie Hijab tragen, und haben oft Schwierigkeiten, Arbeitsstellen zu finden, da einige Arbeitgeber das Tragen von Kopftüchern verbieten. Auch die Wohnungssuche gestaltet sich für Personen mit arabisch klingenden Namen schwierig. Personen mit dunklen Haaren und Bart erleben oft unangenehme Situationen bei Konfrontationen mit Polizei und Türstehern. Arabisch gelesene Merkmale werden mit Islamismus gleichgesetzt, wie eine jüdische Herkunft mit Israels Politik.

Geleakte Protokolle und staatliche Ermittlungen

Wenige Monate nach dem Interview mit dem SDS kursieren Gerüchte über eine weitere Eskalation der Antisemitismus-Vorwürfe gegen rot-linke Gruppen in Marburg.

Durch einen Zeugen gelangten interne Protokolle einer Sitzung linker Gruppen wie dem SDS, der Revolutionären Linken und dem Funken im Rahmen des Marburger Bündnis Palästina Solidarität, an die Öffentlichkeit. Zunächst betonte Blaulicht Marburg in den sozialen Medien, dass sie über diese Protokolle verfügten. Später wurden sie an die WELT weitergeleitet, die daraufhin, wie auch die Oberhessische Presse, einen Artikel darüber verfasste.

In der Sitzung, die dem Zeugenbericht zufolge im demselben Parteibüro der LINKEN stattfand wie der Vortrag Kilanis, wurden laut Protokoll diverse höchst kritische Behauptungen aufgestellt, darunter die Aussage, dass der 7. Oktober eine „Militäroperation“ des Widerstands gegen die Besatzung darstelle, die Behauptung, dass es auf israelischer Seite keine zivilen Opfer gebe, da alle Israelis Siedler*innen seien und somit keine Zivilisten, sowie die Anschuldigung, dass Berichte über systematische Vergewaltigungen israelischer Frauen erfunden seien und lediglich zur Spendengenerierung dienen würden. Mutmaßlich bezeichnete ein Redner Hamas-Kämpfer als Märtyrer und aus dem Publikum wurde diesen Aussagen laut Protokoll kaum Widerspruch entgegengesetzt.

Obwohl sich die SDS-Mitglieder in dem für den Artikel geführten Interview eindeutig von den Hamas als einer palästinensischen sunnitisch-islamistischen und als terroristisch eingestuften Organisation distanzierten, schwiegen sie gegenüber der WELT zu diesem Vorfall, auch wenn sie laut Zeugenbericht eine vermeintliche Moderationsrolle bei der Veranstaltung inne hatten.

Die international organisierte und marxistische Gruppe Der Funke hingegen betonte diese Aussagen gegenüber der WELT und hielt an dem bei der Veranstaltung geschaffenen Bild einer Befürwortung des ,Widerstandes gegen Israel als Besatzungsmacht‘ fest. In einer Pressemitteilung des Jungen Forums Marburg zu dem Marburger Bündnis Palästina Solidarität teilt der Sprecher Jonas Kruthoff  mit: „Wir sind entsetzt, aber nicht überrascht angesichts dieser antisemitischen Radikalisierung. Das Bündnis hat sich bis heute nicht von der Legitimierung der Massaker und Leugnung der Vergewaltigungen am 7. Oktober auf ihrer Versammlung distanziert.“

Marburgs konservative Stimmen fordern laut OP eine gründliche Untersuchung der Ereignisse. Der CDU-Parteichef schließt auch eine mögliche Strafanzeige wegen des Verdachts auf Volksverhetzung nicht aus. Dies wäre ein schwerwiegender Rückschlag für Marburgs linke Gruppen, da dies ihre Finanzierung blockieren und ihre teils wertvolle Arbeit stark einschränken könnte. Unabhängig von der Rechtfertigung wird dies als bedeutender Erfolg für die konservative Strömung und den Populismus angesehen.
Die Universität Marburg versicherte in einem Gespräch mit der WELT erneut, israelfeindliche Plakate würden kompromisslos entfernt werden. „Antisemitismus ist mit den Werten der Universität unvereinbar und darf keinen Platz auf und um den Campus haben“, so eine Sprecherin.

Ein Blick auf die Unversöhnlichkeit

Prompt: Rebecca Größ-Ahr

In einer Stadt fernab der östlichen Mittelmeerküste erleben Konfliktparteien, die möglicherweise nicht vollständig die Ideen und Ansichten der anderen ablehnen, eine konstante Feindseligkeit, die häufig realen Eskalationen vorausgeht. In diesem Kontext dient der BDS schnell als Katalysator radikalisierter Meinungen, der als pseudopolitisches Instrument, den Diskurs um den Nahostkonflikt zu beeinflussen versucht.

Dieser Zwei-Fronten-Konflikt verwischt die Grenzen zwischen Fakt und subjektiver Wahrnehmung, was eine Aufarbeitung der Geschehnisse in Marburg nahezu hoffnungslos gestaltet.

Ein Konflikt, weit über Marburg hinaus, innerhalb der deutschen Linken, führt zu einer Spaltung, in welcher sich verschiedene Formen von Diskriminierung gegenüber stehen. Unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Antisemitismus versuchen konservative politische Stimmen, angeblich importierten Antisemitismus als Vorwand zu nutzen, um arabische Bürger*innen auszuweisen oder gegen sie vorzugehen. Dies geschieht in einer Zeit, in der die Rechte zunehmend erstarkt und auch die parteiliche LINKE auseinanderbricht.

Der tatsächlich zunehmende Antisemitismus wird als Vorwurf inflationär instrumentalisiert, um jede Kritik an Israels Offensive zu unterdrücken. Jedoch wird der Begriff Israelkritik real verwendet, um antisemitische Äußerungen zu verschleiern, während kein anderer Staat für dessen Vergehen mit der Vernichtung seiner Existenz bedroht wird.

Tom Khaled Würdemann, ein Doktorand, der sich derzeit am Institut für Palästina-Studien in Beirut, Washington und Jerusalem mit palästinensischen Israel-Studien befasst, betonte in seinem Gastvortrag in Marburg mit dem Titel „Die Geschichte der Palästinenser*innen“, der ironischerweise nicht nur vom Jungen Forum, sondern auch von der LINKEN Marburg organisiert wurde, dass ein Kompromiss in diesem Konflikt nicht erreichbar sei. Er hob hervor, dass beide Parteien entschlossen seien, an ihren Ansprüchen festzuhalten. Darüber hinaus beleuchtete er die rechtsnationalistische Politik Israels und den akuten Antisemitismus in radikal islamistischen Organisationen. Eine Kompromisslosigkeit, die sich auch in dem linken Stellvertreterkonflikt in Marburg spiegelt und nicht auf eine baldige Versöhnung hoffen lässt.


Es wurde bewusst der Weg gewählt, die Interviews ausschließlich mit Frauen und TINA* zu führen, um in einem männlich dominierten Diskurs eine ausgewogenere Darstellung zu gewährleisten.

(Lektoriert von dsk, jok, let und hab.)


Seit Anfang 2023 Mitglied der Redaktion und schreibt gerne über alles, was politisch, albern oder am besten beides ist.
Nichtraucherin und vegan, in beidem jedoch erfolglos.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Wordpress Social Share Plugin powered by Ultimatelysocial
Instagram
Twitter