Endgegner*in: Grünlilien

Endgegner*in: Grünlilien

Illustration: Malu Wolter

Wenn dir das Leben Zitronen gibt, gibt dir die wacklige Internetverbindung oder die Drehtür in der Bib vielleicht noch den Rest – in unserer neuen Reihe schreiben wir über die Endgegner*innen des Unialltags, also Dinge, die Studis an den Rand der Verzweiflung bringen.

Ich war noch ganz grün hinter den Ohren als Gunni zu mir kam. Doch meine Naivität sollte bald verfliegen. Ich sollte noch schnell genug erfahren, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Die Freude war riesig. Ein bisschen Angst hatte ich aber auch. Von meinen Freund*innen hatte ich teilweise Horror-Storys gehört: von Insektenplagen bis zum Tod durch Ertrinken war alles dabei. Stephen King hätte es nicht besser erzählen können. 

Nun war es also so weit: Ich bekam meinen ersten Ableger geschenkt. In einem mit Wasser befüllten umfunktionierten Marmeladenglas tänzelten sechs gebündelte, längliche Blätter – am Rand hellgrün, innen weiß. Ich taufte die Grünlilie Gunni. Ich gab ihr frisches Wasser und stellte sie auf die Fensterbank. So konnte sie die Vögel beobachten und gleichzeitig die Frühlingssonne genießen. Nach ein paar Wochen hatte Gunni schon zwei dünne Wurzeln gebildet. Sie sah so putzig aus, wie sie ihre kurzen Blätter über den Rand des Glases streckte. Woche für Woche wurde sie größer. Ihre Wurzeln füllten bald schon das ganze Glas. Immer häufiger musste ich das trübe Wasser wechseln. 

Nach einem Monat bemerkte ich, dass Gunni die Farbe aus den Blättern wich. Sie waren bleich und hingen kraftlos am Glasrand herab. Hatte ich ihr zu wenig Wasser gegeben? Zu viel? Hatte sie sich unterkühlt? Oder gar einen Sonnenbrand geholt? Können Pflanzen einen Sonnenbrand bekommen? Eine kurze Internetrecherche ergab: ja. Photosynthese schön und gut, jedoch tun zu viele UV-B Strahlen Gunni wohl auch nicht gut. Ich stellte sie lieber an ein schattigeres Plätzchen. Nach nur wenigen Tagen strahlte sie erneut in einem satten Grün. Ihre Blätter ragten immer weiter über das Glas hinaus. Auch im Glas selbst machte sich die junge Lilie breit. Ihr Wurzelnetz wurde immer größer und verzweigter. Irgendwann war das Glas zu klein für sie geworden. Es war an der Zeit für Gunnis ersten Umzug. Das Marmeladenglas wurde durch einen Blumentopf und das Wasser durch nährstoffreichere Erde ersetzt. 

Neuer Topf, gleiches Spiel: Gunni wuchs und wuchs und wuchs. Sie kam gar nicht mehr raus aus dem Wachsen. Eines Morgens als ich sie gießen wollte, erblickte ich eine kleine weiße Blüte. Es wirkte fast so, als würde sie mich aufmunternd anlächeln wollen. Intention hin oder her, meine Laune besserte sich schlagartig. 

Die Blüte wurde Vergangenheit und das große Wachsen ging weiter. So weit, dass sie irgendwann zur Mutterpflanze wurde. Sie war doch gestern noch ein kleiner Ableger gewesen. Wie konnte das sein? „Sie werden ja so schnell erwachsen…“, hallte es in meinem Kopf. Trotz des überraschend frühen Ablegens freute ich mich für sie. Ihr Grünton war satt und kräftig. Sie schien zufrieden. Ich unterstütze sie, wo ich nur konnte. Mehr denn je achtete ich darauf, dass sie stets genug zu trinken hatte. Auch düngte ich sie. Als die Kleinen schon größer waren, half ich ihnen beim Auszug. Meine alten Aufstrich- und Marmeladengläser sollten ihr neues Zuhause werden. Ich stellte sie auf den Esstisch neben dem Regal, auf dem sie aufgewachsen waren. So hatten sie zwar ihren eigenen Platz, aber ihre Mutter war auch nicht weit. Ich freute mich über grünes Leben in meiner WG. Ihr Wasser wechselte ich regelmäßig. Dieses Mal achtete ich auch darauf, dass die Kleinen keinen Sonnenbrand bekamen. 

Die Kindel (biologischer Begriff für Ableger) hatten noch nicht ihre erste Wurzel gebildet, da legte Gunni schon wieder ab. Ein leeres Glas Curry-Mango-Papaya-Aufstrich, Wasser rein, Ableger drauf: fertig war das nächste erste Eigenheim. Die WG wurde immer grüner. Auf Ablegen die Erste und die Zweite folgte – Überraschung – Ablegen die Dritte. Wachsen, Umtopfen, Ablegen: Es etablierte sich ein Zyklus des Grünlilienwachstums. Ich gab mein letztes Glas für Gunni und ihre Kindel. Auch Wasser gab ich ihnen viel.

Insgeheim hoffte ich, dass jetzt mal gut sei mit dem Ablegen. In jeder Ecke meiner WG standen Mini-Gunnis: auf dem Esstisch, auf meinem Schreibtisch, auf diversen Regalen und Kommoden in allen Räumen. Allein im Bad wohnten vier kleine Gunnis. Ich sah nur noch Grünlilien. Ich träumte sogar von Grünlilien. In einem Traum streifte ich aus Versehen eines von Gunnis Blättern im Vorbeigehen. Wie in dem Kapitel des siebten Harry Potter-Teils, in dem Harry & Co. den Kelch von Helga Hufflepuff aus Gringotts stehlen wollen, löste der Kontakt mit einem Gegenstand seine Vervielfältigung aus. In dem Roman berührt Hermine einen mit Juwelen besetzten Becher. Dieser fängt daraufhin an, sich kettenreaktionsartig zu verdoppeln. Im Nu füllt sich das Verlies von Bellatrix Lestrange mit Juwelen besetzten Kelchen und anderen Schätzen. Die Zauberer*innen werden fast von den sich multiplizierenden Schätzen verschüttet und entkommen dem nur knapp. Auch in meinem Traum ploppten immer mehr Grünlilien auf. Nach nur wenigen Sekunden standen mir die Pflanzen bis zum Kinn. Dann wachte ich auf. Der Albtraum vom Untergang in Grünlilien war vorbei. Das dachte ich zumindest. Auch wenn die Vermehrung in der Realität nicht exponentiell war, legte Gunni munter weiter ab. Sie kam gar nicht mehr raus aus dem Ablegen. Der Grünlilienzyklus wurde nicht einfach nur durchlaufen. Er wurde durchsprintet. 

Gunni bildete mehrere Blütenstände voll mit Ablegern. Ich kam nicht mehr hinterher mit der Versorgung der Kindel. Alle meine alten Aufstrich- und Marmeladengläser waren schon bezogen worden. Über Connections (meine Mitbewohnerin) konnte ich zum Glück noch mehr gläserne Eigenheime beschaffen. Doch auch die Anzahl an Lilienstellplätzen schrumpfte. Die WG war schon fast so überschwemmt mit Grünlilien wie in meinem Traum. Nicht nur meine Kapazitäten an Wasser, Gläsern und Stellplätzen für neue Ableger waren aufgebraucht, sondern auch meine visuellen Kapazitäten. Das mag jetzt hart klingen, aber fünf weitere Grünlilien in jedem WG-Zimmer hätte ich einfach nicht ertragen. Enough is enough. Zum Glück konnte ich einige Ableger an Freund*innen verschenken. Ich versuchte, Gunni in langen Monologen von einem Ablege-Stopp zu überzeugen. Doch das Ablegen fand kein Ende. Irgendwann hatten meine Freund*innen auch keine Grünlilien-Kapazitäten mehr. Und jetzt? Wie waren wir eigentlich an diesen Punkt gekommen? Ich hatte mich doch einst dermaßen über das langblättrige Grün gefreut. Wir lebten in einer so schönen Symbiose: Gunni hauchte meiner WG mehr Leben ein und ich schenkte ihr dafür Wasser, Erde und Eigenheime. Jetzt löste ihr Anblick eher Verzweiflung in mir aus – auch ohne Insektenplage.

Die Kindel zu verkaufen brachte ich nicht übers Herz. Sie abschneiden und direkt zu den verschimmelten Tomaten in den Biomüll werfen, wollte ich auch nicht. Das wäre doch Kind(el)smord. Und sie bei ihrer Mutter lassen? Würde das die Kindel in ihrer Entwicklung einschränken? Sie waren noch so jung und konnten nichts für ihr Schicksal. Das Grünlilien-Dilemma bereitete mir Bauchschmerzen. Ich entschied mich dazu, Gunni einfach wachsen und ablegen zu lassen. Das individuelle Wohl der Kindel versuchte ich dabei zu verdrängen. Ich fühlte mich schlecht, aber anders ging es nicht mehr. 

Ab und zu organisiere ich nochmal einen Auszug. Auch mit Wasser versorge ich Gunni und die Kindel. Ansonsten leben wir komplett aneinander vorbei. All die einstige Freude ist wie weggepustet. Ihren Anblick meide ich, weil mich sonst das schlechte Gewissen einholt. Schuldgefühle sind seitdem meine treuen Begleiter.

Was die Marburger Studis sonst noch im Endgame verzweifeln lässt, lest ihr hier.

(Lektoriert von jok, let und hab.)

ist 1999 in NRW geboren. Studiert seit 2018 in Marburg. Beim Philipp Magazin seit Mai 2023 in der Redaktion aktiv. Wohnt immer noch in ihrer ersten Marburger WG.

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