Für Polina. Für Uns. Wie Takis Würgers neuer Roman einschlägt

Bild: Laura Schiller
Der bekannte Autor Takis Würger hat in Marburg aus seinem Roman Für Polina gelesen. PHILIPP-Redakteurin Luna berichtet von ihrer emotionalen Erfahrung, dabei gewesen zu sein.
Ich weine, als der Finger abgetrennt werden muss. Dabei tue ich das beim Lesen sonst nie. Nicht Dienstags bei Morrie, nicht bei der neuen Suzanne Collins, aber offensichtlich hier: Hannes Prager, Beinahe-Waise, Verlorener, Klaviergenie und Tchaikovsky-Verehrer hat nur noch neun Finger. Eigentlich, so muss ich mir eingestehen, sind die Tränen auch längst überfällig.
Das Buch steckt tief in meiner Tasche, ich noch tiefer in meinem Mantel, schließlich ist es kalt am 10. April 2025 im Historischen Saal des Marburger Rathauses. Die Tränen sind weggewischt. Wer ist nun dieser Mann, dessen Werk ich mit mir schleppe?
Er spricht mit leiser Stimme, gefaltete Hände, Kugelschreiber daneben. Takis Würger, Journalist und Autor: Münchener Abendzeitung, Cambridge, „Top 30 Journalisten unter 30“, Der Spiegel, Deutscher Hörbuchpreis. Und Für Polina, sein sechster Roman. Groß ist er, ruhig und lächelt vor allem anfangs wenig. Der Autor, nicht sein Buch. Drei Passagen liest er uns vor: zwei lang, eine kurz, erklärt Würger fast schon entschuldigend. Dazwischen soll Raum für Fragen sein und auch Zeit. Fragen kommen wenige, wir alle sind schüchtern in diesem gotisch anmutenden Saal. Nur der Veranstalter geht hektisch die Notizen vor sich durch, das Blatt knistert und fällt mehrfach zu Boden. Räuspern und Kopfschütteln, jetzt lächelt Würger doch.
Er habe das schreiben wollen, was er selber lesen musste, sagt der Autor. Ob das nun eine allzu romantische Liebesgeschichte sei, nun, das kümmere ihn nicht. Warum man ihn im Fernsehen mit Dostojewsky vergleiche sei ihm schleierhaft, aber generell müsse man sich das Lesen von Kritiken so schnell wie möglich abgewöhnen. Auf sie hören dürfe man erst recht nicht.
Und dann erzählt er: Hannes Prager ist sonderbar. Auf der Suche. Seit er vierzehn ist verliebt in Polina. Er weiß, dass es nur einen Weg gibt, sie wiederzufinden. Nochmal Klavier spielen, der Leere in seinem Inneren ein Ende setzen. Der junge Mann ist „wundersam begabt“, die ganze Welt gebannt und doch spielt er seine Melodien nur für eine feenhafte, entschwundene Frau. Ob sie ihn hören wird?
Würger entwirft mit Für Polina ein poetisch-musikalisches Telegramm in minimalistischer Sprache, an vielen Stellen geradezu lakonisch, aber mit Witz. Die Kapitel sind wie durchwirbelte Postkarten. Wenn ich zu schnell lese, verliere ich den Faden. Aufpassen also, aufmerksam und gedanklich dort sein, wo auch meine Füße sind. Bei Hannes Prager und seiner innerlichen Zerrissenheit. Vielleicht deshalb die Fragmentästhetik.
Ein Wort fällt an diesem Abend immer wieder – und jedes Mal als Vorwurf. Klischee. Die Suche nach der verloren gegangenen großen Liebe, Seelenverwandtschaft, der eine Sinn im Leben, ohne den alles grau wird. Ist Hannes Prager vielleicht zu außergewöhnlich, man möchte sagen, zu entrückt von unserer Wirklichkeit? Und überhaupt, wie soll diese vor sich hin mäandernde Geschichte über Liebe, Hoffnung und Verlust in unsere realen Leben passen?
Für Polina ist dort ehrlich und tiefgehend, wo andere Romane protzig werden. Es handelt sich um ein stilles Buch, das meinen Alltag begleitet hat wie Musik, die man beim Einschlafen aus dem Nebenraum hört. Takis Würger malt mit einer Sprache, die gleichzeitig bildhaft und reduziert, musikalisch und karg ist. Damit erkämpft sich sein Werk einen Platz als stiller Vermittler – ob es nun um Liebe geht oder um Trauer.
Der Protagonist Hannes Prager hält uns mit seinen Ängsten, Zweifeln und Fehlern den Spiegel vor. Nein, der junge Mann ist kein überzeichneter Held, sondern jemand, der nicht weiß, wie er weitermachen soll. Auf die zwei Tage, die ich zwischen den Seiten und mit Hannes verbringen durfte, schaue ich hoffnungsvoll zurück. Nachdem ich den Buchdeckel ein letztes Mal zuklappe, halte ich ihn noch lange in der Hand, diesen Roman. Er liegt noch immer hier, zurück in den Schrank gestellt habe ich ihn nicht. Wenn ich Für Polina da so liegen sehe, muss ich lächeln.
Ich bin also anwesend, während ich dieses Buch lese. Eben dort, wo meine Füße stehen. Weil Themen wie Liebe, Verlust und Sprachlosigkeit universell sind. Egal wie wundersam Hannes Prager auch sein mag, er zeigt uns, dass Trauer nicht laut sein muss. Sie kann schweigen, schweben und schimmern. Und das darf sie auch. Hannes irrt, zweifelt, hofft – ohne uns Lösungen aufzudrängen. Vielleicht liegt eine darin, unsere Orientierungslosigkeit ernst zu nehmen.
Für Polina gibt Mut: zur Offenheit, zu Widersprüchen, aber auch zum Scheitern. In unserer Zeit, in der alles erklärt, analysiert und kommentiert werden muss, bietet Würger das Gegenteil: Raum für Leerstellen, Stille, Ambivalenz. Gegen die ständige Selbstoptimierung und -vermarktung setzt er mit Hannes Prager ein Gefühl von Erlaubnis. Die Möglichkeit, nicht „fertig“ sein zu müssen.
Also weine ich, während Hannes regungslos erduldet. Die neun Finger. Hemmungslos. Ich schäme mich nicht dafür, weil das Buch das fordert, das Ehrlich-mit-sich-selbst-sein. Die Belohnung, mit jeder Seite, die ich umblättere? Stille. Und dann: Hannes Prager spielt. Tchaikovsky.