„Geiz ist geil!” war gestern – Leihen ist geil!

„Geiz ist geil!” war gestern – Leihen ist geil!

Was ist der Unterschied zwischen einem Paar Schlittschuhen und einem Paar Inlineskater? Was aussieht wie der Anfang eines schlechten Witzes, ist der Auftakt eines dieser Gespräche, die sich um zwei Uhr morgens zwischen leeren Biergläsern, einer handvoll Zigarettenstummeln und einer abgekratzten Jack Daniels Kerze hervortun.

Du befindest Dich in dieser Situation? Gut! Dann stell Dir folgendes vor: Dein Kumpel, griff heute Abend ‚ausnahmsweise‘ zu den Shot-Gläsern. Seit ein paar Minuten starrt er wie gebannt in die Gegend, kneift seine Augen plötzlich zusammen, als würde er den letzten Gedanken nochmal scharf analysieren wollen und dreht sich zu Dir um mit dieser Frage. Er argumentiert, dass Schlittschuhe und Inlineskater beide eine Erweiterung des Schuhwerks sind, die weniger nützlich sind, da sie vor allem jahreszeit- beziehungsweise wetterabhängig genutzt werden. Es sind per Definition Schuhe, aber eigentlich nutzt sie niemand zur Überwindung von Distanzen. Zumindest habe er noch niemanden die Lahn im Winter mit Schlittschuhen runter, oder jemanden nach Wehrda mit Inlineskatern hochfahren sehen. Hast Du? Nein! Wo also ist der Unterschied? Schlittschuhe leiht man wie selbstverständlich auf der Eisbahn aus. Inlineskater im Skatepark hingegen nicht.

Schlittschuhe oder Inlineskater? Das ist hier die Frage!

Diese schlechte Pointe, ist eigentlich nur ein plumpes, aber doch anschauliches Beispiel für eine andere Frage; warum ist es eigentlich selbstverständlich, dass wir bestimmte Dinge regelmäßig ausleihen, andere hingegen nicht?

Wir leihen Schlittschuhe, Kino-Sitze, Kletterausrüstung, Kegel-, Bowling-, Kletterschuhe, Fahrräder, Autos, E-Roller, Krücken, Filme, Spiele, Bücher, Squash-Schläger und und und. Was all diese ‚Dinge‘ eint ist, dass es sich früher oder später etablierte, eben diese Dinge auszuleihen und
nicht persönlich zu besitzen. Die Auswahl hier lässt sich sicher ergänzen. Die Gegenseite – also all die Dinge, die wir tatsächlich besitzen – wird jedoch immer überwiegen.

Warum ist das so? Tatsächlich sind viele der oben genannten Sachen kontextabhängig und teils nicht in unserer Alltagswelt vorhanden. So selten wie ich Leute die Lahn auf Schlittschuhen herunter fahren sehe, so selten benötige ich meine Bowlingkugel im Alltag. Dennoch ist Besitz
ungleich an dem Bedarf regelmäßiger Benutzung festzumachen. Tatsächlich sind es eher eine handvoll Gegenstände, die wir wirklich regelmäßig verwenden und uns eher das Potential gefällt, dass von ihnen ausgeht. Ich beispielsweise habe gerne einen Volleyball im Schrank. Jedes mal wenn ich daran vorbeilaufe bekomme ich das Gefühl, eine sportliche Person zu sein, die jederzeit Volleyball spielen könnte. Ganz zu Schweigen davon, wie meine Gäste das wahrnehmen. Das ich das letzte mal Volleyball spielen war, als Corona noch ein mittelmäßiges Bier war, sei mal dahingestellt. Ähnlich verhält es sich mit dem Fondue-Set, der Schlagbohrmaschine mit 47 Aufsätzen, dem Pavillon für laue Sommernächte auf dem 2m² Balkon oder dem Fußschalter für Audiotranskription, den man sich für sein letztes Podcast-Projekt, welches auch für gehörlose Menschen zugänglich sein sollte, gekauft, das Projekt aber dann doch ad-acta gelegt hat.

Viel Besitz und wenig Potential. Wenig Besitz und viel Potential

Tatsache ist, wir alle besitzen zu viele Dinge, die wir weder regelmäßig, noch überhaupt gebrauchen können. Nur merken wir das erst dann, wenn wir beim Umziehen dreimal fahren müssen, um den Krempel von A nach B zu bugsieren. Doch Loslassen und Ausmisten fällt den meisten von uns auch nicht leicht. Wie auch; denn in modernen Zeiten steht das allgegenwärtige Versprechen, das wir alle, alles, zu jeder Zeit und an jedem Ort machen können. Was genau damit gemeint ist bleibt natürlich vage. Aber ich bin mir fast sicher, dass ich dafür meine Bowlingkugel benötige, weswegen ich sie vorsichtshalber im Schrank behalte.

Hand aufs Herz, wir sind nicht alle Sportler:innen, so handwerklich begabt wie die Väter in amerikanischen Klischee-Streifen und auch keine 5-Sterne Köch:innen, die mit einer Salatschleuder umzugehen wissen. Uns gefällt die Vorstellung davon, dass wir das irgendwann einmal werden könnten. Dazu brauchen wir nur das richtige Equipment und das ist weder verwerflich noch falsch, ganz im Gegenteil; es ist nur fair!

Wie wäre es aber, wenn wir – statt all diese Potentiale Zuhause im Schrank verstauben zu lassen – sie füreinander bereithielten. Für all diejenigen, die Samstags Morgens um 9 Uhr aufwachen und sich denken „Heute ist der Tag. Heute baue ich mir einen Billardtisch!“

Diese Person würde sich dann aber nicht durch den Keller wühlen um die Bohrmaschine zu suchen, die er Anno 1998 für 160 Mark im Baumarkt am anderen Ende der Stadt gekauft hat. Er würde zum nächsten Verleihladen ums Eck gehen und sich dort doch für ein Gärtnern-für-Anfänger:innen-Set entscheiden, denn eigentlich wollte er schon immer Orchideen züchten.

Ausleihen und nicht besitzen heißt nicht verzichten!

Die damit verbundene Idee ist nicht neu. Es ist die Idee nach Gemeinschaftsgütern und nicht weniger als eine Alternative zur Individual- und Konsumgesellschaft. Denn Fakt ist, von allem ist genug da, aber die gerechte Verteilung der Güter innerhalb eines sich selbst überlassenen Systems funktioniert nicht. Verleihläden selbst werden das Verteilungsproblem nicht vollends lösen können, aber sie schaffen Entlastung. Durch sie wird ermöglicht, dass Menschen Zugang zu Dingen haben, die sie sich nicht leisten können. Damit werden sie befähigt, ihre eigenen Visionen umzusetzen, aktiv am Freizeitgeschehen teilzunehmen und sich selbst zu verwirklichen. Das Teilen und Verleihen von Gütern hat darüber hinaus auch das Potential, Menschen in einem Lokalraum zusammenzubringen und eine echte Alternative zum Konsum zu bieten, ohne auf den Konsum verzichten zu müssen.

Die Verleihläden nehmen damit eine wichtige und bedeutsame Vorbildfunktion ein und lassen gleichzeitig ein Stückchen vom Traum einer gerechteren Welt wahr werden. Aber das wirklich Besondere kommt erst noch; wir alle können daran teilhaben. Wir können selber etwas leihen und
uns ausprobieren, ohne finanzielle Risiken einzugehen und wir können anderen die selbe Chance ermöglichen, in dem wir uns entlasten und endlich die Bowlingkugel aus dem Schrank räumen.



Leihen statt Kaufen heißt die Devise, denn Potentiale verstauben nicht im Schrank, sondern werden verliehen. Zum Beispiel in der AusleihBar Marburg. Schau doch mal vorbei: Ausleihbar

von Alexander Kolling

Foto: Shahid Abdullah

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