Sneak Review #197: Belfast

Sneak Review #197: Belfast

Der britische Regisseur Kenneth Branagh gräbt mit seinem Coming-of-Age-Drama „Belfast“ in seiner eigenen Vergangenheit in der nordirischen Hauptstadt. Der Film mit seinen teils autobiographischen Zügen thematisiert das Leben eines neunjährigen Jungen im konfessionell und ethnisch gespaltenen Belfast der späten 1960er Jahre. Wer sich dabei lediglich erhofft, nostalgische Anekdoten einer harmonischen Kindheit zu sehen, wird enttäuscht. Hier erfahrt ihr, warum die Herausforderungen, die das Aufwachsen im Nordirlandkonflikt mit sich bringen, im Film sehenswert dargestellt werden.

Nordirland, 1969

Der neunjährige, aufgeweckte Buddy (Jude Hill) lebt mit seiner protestantischen, britischstämmigen Familie in einem überwiegend von irischen Katholiken bewohnten Arbeiterviertel in Belfast. Zwischen Backsteinreihenhäusern und schmalen Gassen scheint auch mit bescheidenen Verhältnissen eine harmonische, aufregende Kindheit möglich. Denn trotz der politisch aufgeheizten Situation, die durch den Konflikt zwischen irischen Katholiken und protestantischen Loyalisten geprägt ist, existiert eine friedliche Koexistenz beider Gruppen im Viertel. Die Bürgerrechtskampagnen, die das Ende der Diskriminierung von irischen Katholiken zum Ziel haben, führen jedoch zur Eskalation des Konflikts: Radikale, protestantische Loyalisten ziehen plündernd und randalierend durch die Straßen und suchen auch Buddys Viertel heim. Als Reaktion darauf werden von den angegriffenen Iren Barrikaden und Bürgerwehren errichtet, um sich vor weiteren Übergriffen zu schützen.

Buddys Familie steht hinsichtlich dieser Umstände vor einer schwierigen Frage: Bleiben oder gehen? Buddys Vater (Jamie Dornan), der ohnehin schon wegen seiner Arbeit mehr Zeit in England als bei seiner Familie in Belfast verbringt, erhofft sich durch das Auswandern nach Australien oder Kanada bessere Möglichkeiten für sich und seine Söhne. Aber die Mutter (Caitríona Balfe) möchte sich nur ungern von ihrem Viertel mitsamt all der Nachbarn, Freunde und Verwandten trennen. Hinzu kommen Drangsalierungen vom lokalen „Anführer“ der radikalen Loyalisten, Billy Clanton (Colin Morgan), der sich zum Ziel gesetzt hat, die konfessionelle und ethnische Spaltung im Viertel noch weiter voranzutreiben. Vor allem bei seinen Großeltern (Judi Dench & Ciarán Hinds) findet Buddy die Geborgenheit, die im Viertel immer weiter verloren geht.

Als Buddys Vater ein lukratives Jobangebot in England erhält, wird die Frage nach dem Weggehen präsenter denn je. Einem neunjährigen Jungen, der trotz widriger Umstände durch Freundschaft und Liebe auf das Stärkste mit seiner Heimat verbunden ist, erscheint das als Horrorszenario. Als er von seiner Freundin Moira (Lara McDonnell) in eine von Protestanten begangene Ladenplünderung hineingezogen wird, nutzt der Kleinkriminelle Billy Clanton die Gelegenheit und nimmt Buddy vor der anrückenden Polizei als Geisel. Der Junge wird in einen Konflikt hineingezogen, der sich stark auf seine persönliche Entwicklung auswirkt.

Dramakomödie in schwarz-weiß

„Belfast“ macht als Coming-of-Age-Film Vieles richtig, denn er besticht sowohl durch seine Schwarz-Weiß-Ästhetik, die vereinzelt mit Farbfilm-Elementen spielt, als auch durch das Einbetten humorvoller Szenen in einen scheinbar düsteren Kontext. Aus der Zuschauer*innenperspektive war es im Verlauf des Films immer wieder begeisterungswürdig, wie Buddy aufgeweckten Mutes in seinem schwierigen Umfeld eine „normale“ Kindheit durchleben will. Kenneth Branagh gelingt es, uns in eine Welt einzuführen, die sowohl zeitlich als auch gesellschaftlich nur schwer fassbar ist. Dabei wird deutlich, wie stark Branaghs eigene Biographie die Handlung des Films beeinflusst hat. Auch der Regisseur verbrachte seine Kindheit im turbulenten Belfast der 1960er Jahre, bevor er mit seiner Familie nach England zog. Dass der Handlung dadurch ein Stück weit Authentizität attestiert werden kann, zeigt sich nicht nur durch die vom Belfast-Original Van Morrison beigesteuerte Musik, sondern auch durch die im Film von Buddy vollzogene Flucht in Film, Theater und Comics – Zeitvertreibe, die sicherlich auch Kenneth Branagh seine schwierige Kindheit in Nordirland erträglicher erscheinen ließen.

Vor diesem Hintergrund fällt es nicht allzu schwer, „Belfast“ als Homage an die nordirische Hauptstadt zu verstehen. Er sei all denen gewidmet, die geblieben sind, die gegangen sind, und die sich verloren haben. Es ist auf den ersten Blick schwierig, sich im Jahr 2022 aus Marburger Perspektive in diese fremde Welt hineinzuversetzen, deren Konflikte für Unbeteiligte nur schwer nachvollziehbar sind. Auch wenn der langwierige Nordirlandkonflikt durch die Auswirkungen des Brexits wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, kann der Film bei den Unbeteiligten trotz seiner hohen Qualität vermutlich nicht dieselben Emotionen auslösen wie bei alteingesessenen Nordiren. Dennoch greift „Belfast“ universelle Themen auf, die auch für uns von hoher Relevanz sind.

Was ist identitätsstiftend?

Buddys Geschichte ist die Geschichte eines Kindes, das trotz der scheinbar omnipräsenten Widersprüche stetig versucht, das Richtige zu tun und seinen Platz in der Welt zu finden. Sein religiöses Bewusstsein animiert ihn dazu, ständig nach dem richtigen Weg zu suchen. Sei es in der Familie, in seinem Viertel oder in der Liebe. Aber wie scheint das möglich, wenn man an einem Ort aufwächst, der tiefgehend gespalten ist? Es liegt nahe, dass Buddy sich von der konfessionellen Spaltung dahingehend beeinflussen lässt, sich explizit als britischer Protestant zu identifizieren. Aber der Film macht deutlich, dass diese Attribute in seiner persönlichen Wahrnehmung eher nebensächlich sind. Die ständige Konfrontation mit dem Anderen führt nicht zu einer Abgrenzung, sondern zu einem Hinterfragen der Realität.

So wichtig identitätsstiftende Merkmale wie Ethnizität oder Religion auch sein mögen, so sehr können sie verschwimmen im alltäglichen Kontakt mit dem Anderen. Was bleibt, sind keine festgelegten Kategorien, sondern das individuelle Umfeld, das das Leben bestimmt. Gerade deshalb fällt es Buddy und seiner Mutter auch so schwer, das von den sogenannten Troubles geprägte Belfast zu verlassen. Der komplexe gesellschaftspolitische Konflikt, der aus der Perspektive des Kindes nahezu ausgeblendet wird, erscheint den Zuschauer*innen dadurch als absurdes Schauspiel. Wer sich also vom Film erhofft, näheres über die Hintergrunde des Nordirlandkonflikts zu erfahren, wird enttäuscht. Denn die damit verbundene Frage über Privilegien, Diskriminierung und das Politische wird vom Film nur am Rande thematisiert – das kann kritisiert werden. Kritiker*innen könnten behaupten, „Belfast“ sei lediglich eine romantische Erzählung in einem zu komplexen Umfeld. Letztendlich überzeugt „Belfast“ jedoch vor allem durch seine Authentizität als Coming-of-Age-Drama, dem es gelingt, exemplarisch anhand der Entwicklung eines nordirischen Jungen den schwierigen Umgang mit Wert- und Identitätskonflikten aufzuzeigen.

„Belfast“ von Kenneth Branagh erscheint voraussichtlich am 24. Februar in den deutschen Kinos.

Foto: © UPI Media

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