„Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Rabe – Eine Rezension

„Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Rabe – Eine Rezension

Grafik Buchcover: Klett-Cotta Verlag

Im Oktober 2023 wurde der Deutsche Buchpreis verliehen. Die sechs Bücher, die es auf die Shortlist geschafft haben, hat die PHILIPP-Redaktion unter die Lupe genommen. Die Möglichkeit von Glück von Anne Rabe ist eines davon, hat aber – Spoiler – den Buchpreis nicht gewonnen. Trotzdem lohnt es sich, den feingliedrigen Familienroman zu lesen, findet unsere Autorin Rieke. Wieso erfahrt ihr hier.

In Die Möglichkeit von Glück erzählt Anne Raabe die Geschichte von Stine, die Mitte der 80er Jahre in einer namenlosen Kleinstadt in der DDR zur Welt kommt. Sie ist ein Kind der Wende, zu jung, um zu verstehen, wie dieses politische System funktioniert und „Jüngstes Glied einer langen Kette unglücklicher Umstände, die meine Familie sein würde.“ Diese Umstände erklärt ihr ihr Opa Paul Bahrlow, der 1923 in einer armen Berliner Familie aufwuchs, an die Ostfront musste und dank einer Verwundung zurückkehren durfte. Als Kind hinterfragt Stine die Ideologie ihres geliebten Opas nicht. Opa Paul ist leidenschaftlicher Befürworter des DDR-Systems, der sich während Stines Kindheit in die fragwürdigen Machenschaften der Partei verstrickte. Dennoch ist er für die Kinder ein liebevoller Opa. Seine Tochter hingegen erzieht Stine und ihren Bruder mit großer Strenge, hauptsache die Kinder werden nicht verhätschelt. Kleinste Fehler der Geschwister enden in Gewalt der Mutter.

„‚Leben wir in Deutschland?‘, fragte ich Mutter und sie sah mich streng an und korrigierte, ‚nein, wir leben in der DDR.‘“

Mit einer eindrücklichen, schlichten Sprache erzählt Rabe das Schicksal vieler Kinder der DDR. Die schwarze Pädagogik, die sich bis in an den Küchentisch der Familien zog, wird nicht relativiert, nicht klein geredet, aber kontextualisiert. Fast alle kennen Väter, vielleicht nicht den eigenen, die Schwierigkeiten mit Gefühlen haben, sie nicht zeigen und dann und wann explodieren. Die stillen Väter und strengen, teils gewalttätigen Mütter waren Normalität für Kinder der DDR. Die Mutter von Stine sagt ihrer Tochter, die ihr von ihren Ängsten vor der Geburt des eigenen Kindes erzählt: „Man muss bei einer Geburt nicht schreien.“ Daran wird sich Stine Jahrzehnte später bei ihrer ersten Geburt erinnern, sich versuchen daran zu halten und schließlich scheitern, um nach vielen Stunden ihre Tochter Klara in den Armen zu halten. Sie und ihr Bruder wurden, wenn sie schrien, in ein anderes Zimmer gelegt und allein gelassen. Sie schrien so lange bis sie nicht mehr konnten und gelernt hatten, dass es nichts nutzte. Stine möchte bei ihren Kindern alles anders machen. 

„Alle Familien haben solche Geschichten. Gemeinsame Erlebnisse, die eine Familie zu einer Familie machen. Geschichten, die man sich immer wieder erzählt. Die Geschichte von einem missglückten Weihnachtsbraten, von Irrfahrten zu einem lang ersehnten Urlaubsziel, Missgeschicke und Tollpatschigkeiten, die einem noch immer die Lachtränen in die Augen treiben. Diese Geschichten, an die man denkt, wenn man an Zuhause denkt. Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.“

Warum tickt der Osten so anders?

Viele Jahre später, als die Worte des Großvaters verblassen und Stine wie so viele heranwachsenden Menschen anfängt, die Glaubenssätze der Kindheit zu hinterfragen, begibt sie sich auf Spurensuche. In den Medien werden die Unterschiede zwischen Osten und Westen vielfach thematisiert, Rabe zeichnet mit der Geschichte von Stine eine soziologische Studie, die weiter reicht als Stines Verwandtschaftsbeziehungen. Die Fassung bewahren, bloß keine Schwäche zeigen, niemandem zur Last fallen ist das Mantra vieler Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind. Die Resultate des Großwerdens in diesen Gesellschaftsstrukturen zeigen sich in einer ganzen Generation von Menschen. 

„Die Geschichten, die du dir mit Pit und Vicky, Krissi und Ada erzählst, handeln alle vom Alkoholmissbrauch, von Gewalt und Verrohung, und ihr lacht darüber, als gäb’s da wirklich etwas zu lachen. Weil ihr gar nicht wisst, was ihr sonst tun sollt.“

Alternierend schreibt Rabe die eigentliche Handlung des Romans in Ich-Perspektive und flicht kursiv geschriebene Gedankengänge der Protagonistin mit ein, die eine weitere Ebene der Geschichte eröffnen und den Anschein einer Autofiktion erwecken. Diese Gedankengänge der Hauptfigur wirken, als kämen sie direkt von der Autorin Anne Rabe, die während des Schreibens ihre eigene Geschichte reflektiert: „Einmal hat Vater dich gerettet. Andere Male hat er es versucht, das möchtest du zumindest glauben. Du redest dir ein, er hätte gesehen, was Mutter tat, und sei bloß zu schwach gewesen, zu ängstlich, um dir zu helfen.“ 

Mit dem Baustrahler beleuchtet Anne Rabe die Abgründe der DDR

Die Kinder der Wende wachsen in einer Welt auf, in der das politische System selten hinterfragt wird. Die Strukturen, Institutionen und Rituale versucht die Protagonistin zu rekonstruieren, um verstehen zu können, warum ihre Eltern und Großeltern sind wie sie sind. Immer wieder stößt Stine dabei auf Probleme, weil sie Erinnerungen von Missbrauchserfahrungen aus ihrer Kindheit verfolgen und sie sich in den Einzelheiten ihrer Recherche verliert.

Mit Die Möglichkeit von Glück hat Anne Rabe einen feingliedrigen Familienroman geschrieben, in dem die Abgründe der DDR beleuchtet werden, die die Kindheit und Jugend einer Generation prägten. Rabe untersucht die Ursprünge von Rassismus und Gewalt und unweigerlich drängt sich der Gedanke nach dem Ursprung dieser Erzählung auf. Rabe selbst ist im Osten aufgewachsen. 1986 in Wismar geboren, zog es sie fürs Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft nach Berlin, wo sie seitdem lebt. In einem Interview mit dem RBB erzählt Rabe von ihrer eigenen Kindheit, in der sie und ihre Freunde viel Gewalt ertragen mussten. Vor allem das Mobbing untereinander, aber auch brutale Neo-Nazis und Gewalt in den Familien seien Normalität gewesen. Wieviel des konkreten Geschehens in Die Möglichkeit von Glück aber mit Anne Rabe selbst zu tun hat, soll hier gar nicht diskutiert werden.

Das Buch regt zum Nachdenken über die eigene Kindheit an und zum Erforschen der großen Zusammenhänge innerhalb der eigenen Familienstrukturen: Warum bin ich wie ich bin? Welche Verhaltensweisen meiner Urahnen haben bis heute Einfluss auf meinen Alltag? Wenn der Roman eines schafft, dann ist es, ein größeres Bild einer Generation zu zeichnen, die bis heute aufgrund ihrer Herkunft mit Vorurteilen zu kämpfen hat. Die Mauer mag lange gefallen sein und die Trümmer des politischen Bebens beseitigt, kleinere Nachbeben bahnen sich aber bis heute ihren Weg in unsere gesellschaftlichen Strukturen.

Ein Rezensionsexemplar wurde der Redaktion vom Verlag bereitgestellt. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Text wurde dadurch nicht beeinflusst.

(Lektoriert von lurs und hab.)

ist seit Februar 2023 Teil der Philipp Redaktion. Studiert den Master Literaturvermittlung in den Medien. 24 Jahre alt.

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