Von Nanjing aus betrachtet: Ein Blick auf Chinas Kultur – Reisebericht 

Von Nanjing aus betrachtet: Ein Blick auf Chinas Kultur – Reisebericht 

Bilder: Elija Ash Pauksch

„Versuch mal Malmö, das funktioniert gerade gut” ist wahrscheinlich der häufigste Satz, den ich mit meinen Mitreisenden (zwei weitere Studies) während unseres dreiwöchigen Aufenthalts in Nanjing (南京), einer Großstadt im Osten Chinas, ausgetauscht habe, dicht gefolgt von „Wie hat es das bei dir übersetzt?” und „Didi oder Metro?”.

Von VPNs und Alipay

Die Geduld, zwischen verschiedenen VPN(-Standorten) und Apps zu wechseln, ist ein Skill, den wohl jede Person nach einem Aufenthalt in China erlernt hat, wenn mensch weiterhin Zugriff auf WhatsApp und andere in China gebannte Webseiten haben möchte. In der Reisevorbereitung hat mich die Nutzung von VPNs am meisten gestresst, da ich nicht einschätzen konnte, wie gut sie funktionieren werden. Trotz erhöhter VPN-Abschaltung wegen des Volkskongresses, der gerade stattfand, hatte ich nur einige Tage Probleme, meine VPNs zu nutzen. Oftmals wenn ich im Hotel WLAN war, weniger über die mobilen Daten meiner chinesischen SIM. Diese habe ich ohne Probleme kaufen können (wobei mir gesagt wurde, dass das eine Seltenheit sei, ohne mir das Warum zu nennen) und konnte so mein Handy nutzen, wie ich es gewohnt war – mit dem Bonus, kein Portemonnaie mitnehmen zu müssen, weil die Alipay-App der China-Allrounder ist.

Egal ob in der Mall oder bei kleinen Straßenhändler*innen, egal ob Metro, Bus oder Didi (aka das chinesische Pendant zu Uber), sogar beim Buchen von Zügen und dem Eintritt in Museen, für alles wird Alipay genutzt – alternativ auch WeChat, aber um sich dort einen Account zu erstellen, muss dieser von einer Person freigeschaltet werden, die seit über sechs Monaten selbst WeChat nutzt. Es fasst in gewisser Weise Apps wie Uber, Lieferando, ÖPNV, DB und im Fall von WeChat auch WhatsApp und Facebook in einer Plattform zusammen.

Die Sprache als größte Barriere

Nach einem Tag, hungrig und im Restaurant sitzend, wurde mir nun aber bewusst, dass ich die Sprachbarriere absolut unterschätzt hatte. Minutenlang musste das Handy für die Übersetzung hin- und hergereicht werden bis wir ungefähr wussten, welche Gerichte vegetarisch sind. Vorher mussten wir noch klarstellen, was wir mit vegetarisch meinten. Im Chinesischen gibt es verschiedene Konzepte des Vegetarismus, die vor allem durch den Buddhismus beeinflusst sind. Aus der westlichen Perspektive ähnelt dieser Vegetarismus eher dem, was wir als vegan bezeichnen, schließt aber auch den Verzehr von Knoblauch und allen zwiebelähnlichen Gemüsen, wie z. B. Lauch aus. Da es bereits schwer war „westliches“ vegetarisches Essen zu finden, hätte die in China vorherrschende buddhistische Auslegung unsere Essensmöglichkeiten wesentlich weiter eingeschränkt.

Immer wieder Menüs abzufotografieren und mit Google Translate (wenn VPN an) oder Alipay-Übersetzer (wenn VPN aus) zu scannen, noch einmal nachzufragen, ob es „Kein Fleisch, kein Fisch, keine Meeresfrüchte” (auch hier natürlich wieder via Übersetzungsapp) beinhaltet oder bei dem Besuch von Sehenswürdigkeiten und Museen zu vermitteln, dass wir kein WeChat, sondern nur Alipay haben, hat sich zur zweiten Natur entwickelt.

Im Nachhinein fällt mir auf, dass sich der Unterton der bei „Wie hat es das bei dir übersetzt?” in den drei Wochen, die ich in Nanjing verbracht habe, sehr verändert hat. Es wäre übertrieben zu sagen, dass die Sprachbarriere nachgelassen hat, aber mit der Zeit bin ich deutlich entspannter an die Interaktionen mit den Menschen in Cafés und Restaurants herangegangen. Während meine Freund*in und ich diese Frage am Anfang vor allem gestresst ausgetauscht haben, war es nach der ersten Woche mehr die Nachfrage, ob die Übersetzungsapp der anderen Person aussagekräftigere Ergebnisse anzeigt, denn die Übersetzung der Getränke in Cafés war oftmals nicht aufschlussreich und auf lustige Weise verwirrend, wenn dort zum Beispiel „Dirty Duck” auftauchte.

Auch wenn es sprachlich nicht ‚leichter‘ geworden ist, da nur eine Handvoll Menschen, denen wir begegnet sind, (etwas) Englisch sprechen konnten, haben sich Tätigkeiten wie das Didi und Metro fahren schnell nicht anders angefühlt als in Deutschland den Bus zu nehmen.

Als Tourist*in in China

Alles, was ich von dem Land gesehen habe, hat mich überzeugt, dass ich auf jeden Fall noch einmal nach China möchte. Die Kultur, die Nanjing als ehemalige Hauptstadt der Ming-Dynastie und als eine der historischsten Städte in China anzubieten hat, hat mich überwältigt. Es gibt wunderschöne Parks voller Pagoden an Teichen und Alleen, die gesäumt sind von Kirschbäumen.

In diesen Gegenden, die es natürlich auch in den anderen Städten gibt, trifft mensch sehr wahrscheinlich auf Chines*innen, die sich in traditioneller Kleidung durch die Menschen schlängeln und den perfekten Platz für ein Fotoshooting im Auge haben. Tatsächlich gibt es eine Vielzahl an Läden, die diese Kleider vermieten und Make-Up und Haarstyling anbieten, um bestmöglich auszusehen.

Die wahrscheinlich schönsten Parks findet mensch aber nicht in Nanjing, sondern in Suzhou (蘇州市) (220 km von Nanjing aus). Die Stadt ist bekannt für ihre Gärten, von denen neun als UNESCO Weltkulturerbe gelistet sind. Da die Zugverbindungen in China zwischen den Städten günstig, aber vor allem auch sehr schnell sind, konnten wir die Stadt problemlos einen Nachmittag lang erkunden. Selbst Shanghai (300 km von Nanjing aus) konnten wir mit dem Zug innerhalb von 2 Stunden erreichen, was dabei genauso schnell ist, wie die Flugzeit zwischen den beiden Städten. Daher waren Natur, Kultur und Städtetrip für mich in China keine getrennten Kategorien, sondern eng miteinander verwoben.

Ein absolutes Highlight dabei war Huang Shan (黃山) (320 km von Nanjing aus), die gelben Berge. Das typische Gebirge, welches den Hintergrund bei traditioneller Kalligraphie ziert, ist oft regnerisch, aber einen Besuch wert, wenn mensch kein Problem damit hat, viele Treppen zu steigen.

Vorher vs. Nachher – Mein Chinabild

Es ist faszinierend, wie sich mein Bild von China gleichzeitig in einigen Aspekten vollkommen bestätigt hat und in anderen absolut durch die westliche Darstellung verzerrt war. In einer so großen Stadt wie Nanjing (über neun Millionen Einwohner*innen), aber spätestens in Shanghai (上海, über 32 Millionen Einwohner*innen), hatte ich mit viel Straßenlärm und auch Smog gerechnet. Ganz im Gegenteil finden sich in Chinas Städten inzwischen nur noch wenige Autos und Mopeds, die nicht elektrisch sind. Lärm entsteht so nur durch die Menschen auf den Straßen, das Hupen der Autos und die Lautsprecher der Ladenbesitzer*innen, die in Dauerschleife Werbung abspielen.

Neben dieser positiven Überraschung musste ich mich an vielen Stellen auch mit meinem anerzogenen anti-asiatischen Rassismus konfrontieren. Anders als hochtechnologische Dinge wie Roboter, die teils den Raumservice im Hotel übernehmen, und den Toiletten, die einem erst den Sitz wärmen und dann nach Temperaturvorliebe Wasser sprühen (und sogar ein Gebläse zum Trocknen haben, falls mensch kein Toilettenpapier nutzen möchte), hat die Konfrontation mit einer Hocktoilette nicht in meinen Kopf gepasst. In ländlicheren Regionen hätte ich so eine Toilette erwartet, aber nicht in einer riesigen Mall, die ebenfalls mit Robotern mit KI ausgestattet ist, die einem den Weg weisen. Hocktoiletten kamen mir automatisch „rückständig” vor und ich musste aktiv daran arbeiten, diesen rassistischen Gedanken aus meinem Kopf zu bekommen.

Auch wenn es um das niedrige Englischlevel der Menschen geht, mit denen ich interagiert habe, war automatisch ein unterschwelliges Gefühl da, ‚besser‘ und vielleicht sogar ‚intelligenter‘ zu sein. Englisch ist so tief im deutschen Bildungssystem verankert, dass mir die Vorstellung, dass China durch seine starke und diverse Wirtschaft gar nicht darauf angewiesen ist, seiner Bevölkerung Englisch als Werkzeug der Kommunikation beizubringen, nicht sofort in den Sinn kam.

Meine Zeit in China markiert meinen ersten Aufenthalt in Asien und die erste Erfahrung, mich als weiße Person in einer offensichtlich nicht-weißen Umgebung zu bewegen. Besonders zu Anfang war es extrem ungewohnt und sehr komisch zu wissen, dass Leute Fotos machen oder sich absichtlich mit mir im Hintergrund fotografieren ließen. Teils habe ich mich dabei sehr unwohl gefühlt, bin aber dankbar für den Privilegien-Check, den ich dadurch erlebt habe.

In den drei Wochen, in denen ich vor allem Nanjing erleben durfte, habe ich deutlich gesehen, dass die Lebensrealität viel komplexer ist als es die westlichen Medien vermitteln. Von den Überwachungskameras an allen Ecken bin ich auch jetzt definitiv kein Fan; allerdings schon davon, als weiblich gelesene Person entspannt auch abends am Fluss entlangspazieren zu können und dabei ganz und gar nicht die Einzige zu sein, die diese Möglichkeit nutzt.

China ist voller Ambiguitäten, die nicht einfach zu sehen und zu akzeptieren sind. Am deutlichsten hat mir das mein letzter Tag im Mochou Park (莫愁湖) gezeigt: 

Eine Gruppe der chinesisch-muslimischen Hui-Minderheit tanzt in Gewänder gekleidet zu Musik, die ihre arabischen Wurzeln offenlegt. Einige hundert Meter entfernt schreibt ein alter Mann mit Wasser auf englisch Protestsprüche auf den Steinboden, die durch die Sonne trocknen und so ohne Spur verschwinden werden.

Gleichzeitig wird überall, wo ich hingehe, mein Pass gescannt, eine Kamera sieht mich und AliPay hat eine perfekte Übersicht über die Orte, die ich mit ÖPNV besucht habe, das Essen, das ich gegessen oder bestellt habe und jeden Suchbegriff, den ich mit dem Übersetzer übersetzt habe. 

Aus Deutschland und anderen Ländern, die ich besucht habe, kenne ich diese für mich widersprüchlich erscheinenden Situationen nicht. In China durfte ich lernen, solche Ambiguitäten wahrzunehmen und zu akzeptieren, dass es Aspekte und Dinge gibt, die ich nach meiner Rückkehr nach Europa vermissen werden, aber auch Aspekte, denen ich weiterhin sehr kritisch gegenüberstehe.

Um es auf den Punkt zu bringen …

China ist weit weg, ein riesiges Land und in den westlichen Medien oft sehr einseitig dargestellt. Es gibt mehr als eine Sache, die an der Politik kritisiert werden kann und auch sollte. Vor Ort zu sein eröffnet jedoch noch ein ganz anderes Bild. Eines voller kultureller Diversität und Eindrücke, die traditionell und modern sind. Eines, dass viel komplexer und schöner ist, als ich es gedacht habe.

(Lektoriert von nir und hab.)

(Pronomen they/nin)
seit Ende 2023 hier beim PHILIPP und tobt sich kreativ bei der Erstellung von Artikel-Titelbildern und dem Erstellen von Instagram-Beiträgen aus.
They studiert im Master "Cultural Data Studies" und nutzt die letzten Semester an der Universität, um so viele Auslandserfahrungen zu sammeln wie möglich.
Persönliche Schwerpunkte sind alles, was mit Intersektionalität, der LGBTQIA+ Community und Einblicken in andere Länder und die dazugehörigen Sprachen und Kulturen zu tun hat.

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