Ein neues Kapitel in der Welt von Erdsee – Hörspiel-Review: Erdsee Staffel 2

Ein neues Kapitel in der Welt von Erdsee – Hörspiel-Review: Erdsee Staffel 2

Bild: Laura Schiller

Ursula K. Le Guins Erdsee-Reihe begann ursprünglich 1968. 50 Jahre später hat der WDR die ersten Bände zu Hörspielen umgearbeitet, 2022 folgte der Rest der Saga. Unsere Redakteur*in Elija hat sich den zweiten Teil der Hörspiel-Reihe angehört und erzählt, wie Le Guin Fantasy und Feminismus miteinander verknüpft – und ob die Hörfassung gelungen ist.

In der Ferne ragen die zerklüfteten Berge der Insel Gonts empor, über ihnen kreist ein Falke, der im sinkenden Sonnenlicht golden schimmert. Näher an den Bergen, jedoch weit ab von den Dörfern und den Ziegenweiden, brennt ein Feuer, umringt von mehreren Männern, die sich über ein Mädchen lustig machen.

Der Beginn

Tenar, auf Gont von den Einheimischen jedoch Goha genannt, ist Hörer*innen und Leser*innen der Erdseewelt aus dem zweiten Band Die Gräber von Atuan als Hohepriesterin bekannt. Sie ist nun im vierten Band Tehanu, die Protagonistin. Die Gräber verließ sie vor Jahren und baute sich ein Leben und eine Familie auf Gont auf. Inzwischen sind ihre Kinder aus dem Haus und sie lebt als Witwe dort allein. 

Während hier das Buch beginnt, werden die Hörer*innen in der Adaption des WDRs mitten in die Handlung geworfen, die nicht weniger schockierend ist, nur weil die sehr nötige Inhaltswarnung vorher ausgesprochen wurde: Bei dem Mädchen handelt es sich um Therru, die aus ihrer Sicht die Geschehnisse beschreibt. Zuerst wird sie von den Männern vergewaltigt und schließlich von einem, ihrem Vater, in das noch brennende Feuer gestoßen. Dort findet Tenar sie, behandelt ihre Wunden und adoptiert sie als ihr eigenes Kind.

Die weitere Handlung ist überwiegend charaktergetrieben. Spätestens als Ged, Magier und Protagonist der ersten drei Teile, zu den beiden stößt wird deutlich, dass das Kernthema des Hörspiels (und von der Buchvorlage) die Findung von Identität ist. Geschlecht spielt hierfür eine zentrale Rolle, die das Hörspiel an verschiedenen Stellen jedoch anders hervorhebt als das Original.

Die Autorin

Die US-Amerikanerin Ursula K. Le Guin inspirierte bekannte Autoren wie Neil Gaiman, George R. R. Martin und Terry Pratchett. Als sie 2018 verstarb, verfasste Stephen King einen Tweet und betitelte sie als „eine der Größten ihres Faches“. In Deutschland ist Le Guin jedoch kaum bekannt, und wenn, dann nicht für die Erdsee Reihe, sondern für ihre Science-Fiction Romane.

Le Guins Fantasy-Reihe Erdsee begann 1968 mit der Veröffentlichung des ersten von sechs Bänden. Nachdem der WDR bereits 2018 die ersten drei Bücher als Hörspiel adaptierte, erschien 2022 der Rest der Saga ebenfalls als Hörspiel. Für die Adaption arbeitete die Dramaturgin Judith Adams eng mit Le Guin zusammen, während Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring für die Übersetzung aus dem Englischen zuständig waren. Inzwischen sind leider weder Staffel 1 noch Staffel 2 mehr online verfügbar. 

Feminismus und Fantasy

Im Vorwort zu Tehanu eröffnet die Autorin, wie sehr ihr internalisierter Sexismus dazu geführt hat, dass ihre eigene Buchreihe bisher so sehr durch Ged als Protagonisten geprägt war und Tenar als Hausfrau inszeniert, obwohl sie nicht nur das ist.

Ab diesem Punkt wird in der Erdsee-Reihe immer mehr Sexismus thematisiert, sowohl unterschwellig als auch offensichtlich. Ged muss sich selbst reflektieren, um mit seinem Magieverlust, der gleichzeitig auch Machtverlust bedeutet, umgehen zu können. Tenar wird bewusst, wie die geschlechtsspezifische Erziehung ihrer Kinder, ihrem erwachsenen Sohn ein Bild von toxischer Männlichkeit und klassischer Rollenverteilung vermittelt hat. Währenddessen bekommt Therru die Liebe und die Zeit, um ihren eigenen Weg zu finden.

Die soziale Hierarchie Erdsees, in der Magie mit Männlichkeit gleichgesetzt wird, in der (wie in unserer Welt) ein Patriarchat herrscht, nicht-männliche Menschen regelmäßig Diskriminierung, Gewalt und Victim-Blaming erleben, wird kritisiert. Teilweise geschieht dies dabei auch auf intersektionale Weise, indem andere Marginalisierungen wie race und Be_hinderung einbezogen werden.

Diese Thematisierung wird vielen Hörer*innen auch so bewusst, doch hat das Vorwort der Autorin, welches im Hörspiel nicht integriert ist, einen guten Einstieg und Rahmen gebildet, durch welchen die einzelnen Situation klarer betrachtet, werden können.

Umsetzung als Hörspiel

Während im Buch Tenar als Hauptfigur dient, teilt sie sich beim WDR mit Therru die Hauptrolle. Auf diese Art können bestimmte Handlungselemente trotz der Kürzung besser erklärt werden. Allerdings verändert dies Therrus Charakter, da einige Szenen angepasst wurden, wodurch sie ihre nuancierte Bedeutung verlieren.

Im Vergleich zu Le Guins Orginal zeigt sich eine Dramatisierung der Handlung, die über die Lebendigkeit, die durch die verschiedenen Sprecher*innen der Adaption entsteht, hinausreicht. Die Geschichte wird so weniger durch die Charaktere und mehr durch die Situationen, in denen sie sich wiederfinden, getragen. Für Personen, die in Fantasy-Büchern mehr Spannung wollen, ist diese Version daher zu empfehlen. Kennt und liebt mensch jedoch den klassischen Stil von Le Guins Erdsee mit seiner ruhigen Beschreibung und Atmosphäre, könnte das Hörspiel möglicherweise enttäuschen.

Die Adaption bietet somit einen neuen Anknüpfungspunkt an Erdsee, der vorher noch nicht existiert hat. Auf diese Weise ist es nicht eine Inszenierung, deren Ziel es ist, durch seine Neuheit Menschen zum Konsum zu bewegen, sondern einen anderen Zugang zur magischen Welt von Erdsee zu erschließen, der spannender formuliert ist.

Dies ist möglicherweise auch ein Grund, warum Le Guin, die der Kommerzialisierung von Adaptionen und Remakes im Kapitalismus kritisch gegenübersteht, mit dem Ergebnis von Judith Adams so zufrieden war. Tatsächlich sagte sie selbst, dass sie sich keine bessere Person für die Umsetzung, an deren Prozess sie teilhaben durfte, hätte wünschen können.

Das Erdsee des WDRs

Es freut mich zu wissen, dass Le Guin die Adaption für gelungen hält, mich persönlich konnte sie aber weniger mitreißen als die Bücher, da ich den Schreibstil bevorzuge. Besonders der Einstieg mit Therrus Vergewaltigung ist mir zu dramatisierend inszeniert. Als von der Gesellschaft weiblich gelesene, habe ich mich sehr unwohl gefühlt und kann mir nicht vorstellen, wie das Opfer von Vergewaltigung triggern und möglicherweise auch retraumatisieren kann. Für die spätere Handlung ist die detaillierte Szene, in der Therru mit schwerem und stockenden Atmen erzählt, was ihr passiert ist, auch nicht relevant, weswegen es mir in gewisser Weise wie Trauma-Porn vorkam. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass die Deutlichkeit, mit der diese Szene beschrieben ist einen Tabubruch darstellt, der ebenfalls als Empowerment und Schaffung von Awarness gesehen werden kann.

Abgesehen vom Einstieg des Hörspiels hatte ich viel Freude daran, die WDR-Adaption anzuhören. Und unabhängig davon, für welche Version mensch sich entscheidet: Die Welt von Erdsee ist ein Ort, der Fantasie und Gesellschaftskritik auf eine entspannte Weise thematisiert, ohne dadurch ihre Bedeutung abzuschwächen.

(Lektoriert von lurs und hab.)

(Pronomen they/nin)
seit Ende 2023 hier beim PHILIPP und tobt sich kreativ bei der Erstellung von Artikel-Titelbildern und dem Erstellen von Instagram-Beiträgen aus.
They studiert im Master "Cultural Data Studies" und nutzt die letzten Semester an der Universität, um so viele Auslandserfahrungen zu sammeln wie möglich.
Persönliche Schwerpunkte sind alles, was mit Intersektionalität, der LGBTQIA+ Community und Einblicken in andere Länder und die dazugehörigen Sprachen und Kulturen zu tun hat.

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