Marburger Kamerapreis 2024: Sturla Brandth Grøvlen über Victoria

Marburger Kamerapreis 2024: Sturla Brandth Grøvlen über Victoria

Bild: Elija Ash Pauksch

Anlässlich des diesjährigen Marburger Kamerapreises wurden drei längere Interviews mit dem Preisträger Sturla Brandth Grøvlen geführt. Dabei stand jeweils ein Film aus Grøvlens breitem Schaffen im Zentrum. Das dritte Gespräch kreiste um den Film Victoria (2015) und wurde von dem Berliner Kameramann Matthias Fleischer geführt. PHILIPP war für euch vor Ort, um zu berichten.

Es gibt wenige Filme, denen es gelingt, selbst im Abspann noch zu überraschen. Victoria, der fünfte Spielfilm von Sebastian Schipper, beginnt seine abschließende Namensaufzählung nicht mit ebenjenem Namen des Regisseurs, sondern mit Sturla Brandth Grøvlens. Grund dafür ist, dass der Film vollständig aus einem ‚Oner’ besteht, also einer einzigen, ungebrochenen Kameraeinstellung. Grøvlens Präsenz im Film ist dadurch unbeschönigt omnipräsent. Es gibt keine Schnitte, die die individuellen Zuckungen und Wackler seines Bildes verstecken oder glätten könnten.

Eine starr durchgeplante Bildgestaltung war aber laut Grøvlen auch nicht der Sinn des Projekts, als ihm Sebastian Schipper von seiner Idee eines One-Shot-Films erzählte. Die beiden trafen sich auf dem Set des Thrillers The 11th Hour (2014) – ein früher Film Grøvlens, ein weiterer für die parallel zu den Regiearbeiten laufende Schauspielkarriere von Sebastian Schipper. Grøvlen war zwar interessiert, dachte aber zunächst nicht, dass er der ichtige für den Film sei. Es brauchte die Überzeugungsarbeit von Anders Morgenthaler, dem Regisseur von The 11th Hour, um Grøvlen dazu zu bringen, Schipper anzurufen und nach dem Job zu fragen.

Der Atem einer langen Nacht

Der generelle Diskurs um Victoria nimmt häufig und im Gegensatz zu einem Großteil anderer Filmdiskussionen nur die Inszenierung und Dreharbeiten des Filmes in den Blick. Das liegt nicht nur daran, dass die Frage danach, wie es Schipper, Grøvlen und ihrer Crew gelungen ist, diesen Film zu machen, bereits beim verwunderten Schauen an Dringlichkeit gewinnt. Die anderen Aspekte des Filmes sind im Vergleich zu der Regie und der dadurch aufkommenden Energie schlicht größtenteils langweilig, und zwar besonders dort, wo sie sich auf die Figuren konzentrieren. 

Das fällt bei einer Betrachtung der Handlung zunächst nicht direkt auf: Die namensgebende Spanierin Victoria (Laia Costa) ist gerade nach Berlin gezogen und trifft im Laufe einer Partynacht auf eine Gruppe von, wie sie selbst sagen, „echten Berliner Jungs”. Die prägnantesten Mitglieder der sich nur mit Spitznamen vorstellenden Gruppe sind Sonne (Frederick Lau, hier versucht charmant und schmierig) und Boxer (Franz Rogowski, hier primär aggressiv und ruhelos). Da Victoria noch niemanden in der Stadt kennt, schließt sie sich ihnen an. Neben den rüpelhaften Albernheiten, die erst nach Mitternacht bedeutungsvoll und schlüssig erscheinen – darunter das unerlaubte Betreten eines Wohnhausdaches – entwickeln sich romantische Gefühle zwischen Sonne und Victoria. Diese etwas holprig gespielte Beziehung wird direkt auf die Probe gestellt als Victoria Teil eines Raubüberfalls wird, zu dem die Gruppe sich gezwungen sieht, um Boxers Schulden bei einem gefürchteten Drogenmogul zu begleichen. 

Schipper interessierte sich laut Grøvlen besonders dafür, die groben Züge eines Heist-Filmes aufzugreifen, dabei aber den Überfall selbst nicht zu zeigen und sich stattdessen mit den Konsequenzen dieser Aktion zu beschäftigen. Es ging ihm vielmehr um das Einfangen eines bestimmten Rhythmus’, einer Interaktion zwischen Kamera und Figuren, die konstant Nähe und Spannung aufbauen würde, ohne sich in Genre-Klischees zu verlieren; eine lange Nacht voller Euphorie und Erschöpfung, zwischen Partyglück aus Plastik und moralischen Abgründen. Das angestrebte Gefühl einer unchoreographiert wirkenden Authentizität beeinflusste nicht nur die Inszenierung von Victoria. Schipper kreierte mit seinem Team nur ein loses Handlungsgerüst, der Rest wurde vor Ort und laufender Kamera improvisiert. Vielleicht ist dieser Ansatz, der Fokus auf eine konstant filmende Kamera, um die alles gebaut wurde, der Grund, aus dem die Figuren fast schon zwangsweise als Requisiten angesehen werden können, die der Kamera Gründe dafür geben, sich zwischen und mit ihnen zu bewegen. 

Es bestand eine konstante Kommunikation zwischen dem Regisseur und den Schauspieler*innen. Schipper redete – durch präzises Sound-Design jedoch aus dem eigentlichen Film-Ton entfernt – in die Ausführungen der Schauspielenden hinein und gab ihnen neue Anweisungen und Fetzen von aufzugreifenden Gesprächsthemen. Mitten darin: Grøvlen mit seiner Kamera als stilles, zusätzliches Mitglied. Er verweist jedoch gelassen auf seine Erfahrungen im Dokumentationsbereich, die ihn auf so eine freie, anpassungsfähige Arbeitsweise vorbereitet haben. Als Sicherheitsnetz gab es zwar einige Proben, die einem konventionelleren Szenenaufbau folgten, wodurch auch Material gefilmt wurde, das dann eventuell zu einem gewöhnlichen Film zusammengeschnitten werden konnte, aber das war bestenfalls eine Notlösung. Hilfreicher war dagegen der iterative Drehprozess: Der knapp 140 Minuten lange Film wurde insgesamt drei Mal gedreht, nach jedem Take wurden Änderungen und Verbesserungen für den nächsten Versuch vorgenommen. Es wurde dann der dritte Take als Filmfassung ausgewählt, obwohl Grøvlen den zweiten bevorzugte. Die Mängel des dritten Versuchs störten ihn nach dem Dreh sogar so sehr, dass Grøvlen einen Entschuldigungsbrief an Schipper schrieb, der jedoch mehr als zufrieden war. 

Preisgekröntes Gefühl

Wenn es um ‚Oner‘ geht, kann manchmal der Eindruck entstehen, dass sie zu Fetisch-Objekten innerhalb mancher Filmkreise werden. Das keinesfalls von der Hand zu weisende technische Können und das generelle Talent aller Beteiligten, die Freude an dem gelungenen ‚Oner‘ übersteigt dabei das ästhetische Verhältnis der Kamera zur eigentlich erzählten Geschichte (siehe dafür zum Beispiel Birdman, 2014). Diskussionen darüber, wie der Film gedreht wurde, so interessant und berechtigt sie auch sind, nehmen so viel Raum ein, dass es nicht mehr darum geht, was sie eigentlich damit erzählen wollen. Es kann dazu kommen, dass die Kamera mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als das, was sich vor ihr befindet. 

Victoria gelingt es aber, wie auch fast allen anderen Arbeiten Grøvlens, einen solch natürlich wirkenden Bewegungsfluss zu kreieren, dass die schnittlose Einstellung schnell nicht mehr wahrgenommen wird. Grund dafür ist die besondere Mischung, aus der sich die Grøvlen’sche Ästhetik bildet, die er laut eigener Aussage für diesen Film das erste Mal richtig erprobte. Darunter das natürliche, von kalten zu warmen Farben wechselnde Licht, das auch seine Herangehensweise an Filme wie War Sailor (2022) beeinflusste. Er griff auch hier wieder zu seiner ALEXA-MINI, einer relativ kleinen Kamera, diesmal mit kaum zusätzlichem Kabelwerk und ohne Monitor. Es gab also keine vermittelnden Übertragungsschritte zwischen Grøvlen und dem Bild, nur den direkten Blick durch den Viewfinder. Der Großteil blieb dadurch seinem und Schippers’ Gefühl überlassen, der Grøvlen und den Schauspieler*innen von Szene zu Szene nachrennen musste – in einer der Autosequenzen versteckte sich Schipper im Kofferraum, um gleichzeitig mit den Figuren am nächsten Handlungsort anzukommen. 

Grøvlen hingegen musste sich antrainieren, seinen Kameragriff möglichst reibungslos und flexibel zu wechseln, inmitten der ihre Improvisationen fortsetzenden und sich bewegenden Schauspieler*innen. Er achtete auch darauf, in bestimmten Momenten länger zu verweilen, das Bild zu halten und den Moment auszudehnen. Sein auf Schnitte trainiertes Gehirn war bisher daran gewöhnt gewesen, in Brüchen und Fragmenten zu denken und bei der Umsetzung eines Bildes gleichzeitig zu berücksichtigen, wie es vor und nach anderen Bildern im Schnitt aussehen würde. Doch bei Victoria ging es um die Kreierung eines ‚Flows‘, der auch die unbewussten Erwartungen eines Schnittes in der Zuschauerschaft ausschalten sollte. Der Zaubertrick gelang, Grøvlen erhielt auf der Berlinale 2015 den Silbernen Bären für seine Kameraarbeit. Ein letzter, preisverdächtiger Blick hinter die Kulissen: In einer Badezimmerszene musste Grøvlen seine Schuhe ausziehen, um etwaiges Quietschen zu vermeiden. Die letzten 20 Minuten des Filmes huschte er also in Socken durch Berlin, um seine Räuberbande einzufangen.   

(Lektoriert von nir und hab.)

ist seit Mitte Februar 2023 Redaktionsmitglied. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Hat den Film "Babylon" acht Mal im Kino gesehen. 25 Jahre alt. Liebt schiefe Vergleiche.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wordpress Social Share Plugin powered by Ultimatelysocial
Instagram
Twitter