Rostiger Nagel #4: Auf Abstand zum Weihnachtsmarkt

Rostiger Nagel #4: Auf Abstand zum Weihnachtsmarkt

Die Corona-Pandemie verändert dieses Jahr unseren gesamten Alltag und macht dabei selbstverständlich auch nicht vor liebgewonnenen Traditionen und lange verinnerlichten Ritualen Halt. Wie alles andere fallen im Advent 2020 auch (fast) alle Weihnachtsmärkte aus oder finden in stark abgespeckter Version statt. Auch in der Marburger Innenstadt hat man begonnen, einzelne Buden weit voneinander entfernt aufzubauen. Doch ist die Absage von Weihnachtsmärkten für die potentiellen Besucher:innen wirklich ein großer Verlust? Oder kann man nicht auch einfach zuhause schlechte Musik hören und einen Topf voll billigem Alkohol erhitzen?

Weihnachtsmärkte sind ein deutscher Exportschlager, genau wie große Autos mit hohem Spritverbrauch und das Konzept, im Restaurant getrennt zu zahlen. Das bewährte Erfolgsrezept „Überteuertes Kunsthandwerk & Dinge in Frittierfett tauchen“ erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit, und auch ich gebe zu, schon das ein oder andere Mal freiwillig mit einem Keramikbecher in Stiefelform (unpraktischstes Design überhaupt) auf einem deutschen Marktplatz gestanden zu haben.

Aber sind wir mal ehrlich: wirklich geil sind Weihnachtsmärkte jetzt auch nicht, oder?

An den „Fressbuden“, in denen primär mit Frittösen und Schwenkgrillen gearbeitet wird, gibt es Speisen zu kaufen, die derart ungesund sind, dass sie selbst Junkfood von McDonald’s & Co. wie eine Avocado-Quinoa-Bowl aussehen lassen. Dazu wird Glühwein feilgeboten, der immer etwas schmeckt, als sei er bereits einmal getrunken worden, aber trotzdem 3,50€ pro 0,2l kostet.

Um die Stände schwärmt ein Haufen Menschen mittleren Alters, die es für eine unglaublich witzige und originelle Idee halten, sich bewegliche Weihnachtsmann-Mützen und blinkende Rentiergeweihe auf den Kopf zu setzen. Bei Jüngeren wird dieser pfiffige Look noch von einem – natürlich total ironisch getragenen – hässlichen Weihnachtspullover abgerundet.

Die beiden Marburger Weihnachtsmärkte bilden da keine Ausnahme und steigern ihren Nerv-Faktor noch zusätzlich durch eine Planung, die vor allem an Wochenenden offensichtlich eine Getränkebude für 10 000 durstige Besucher:innen vorsieht. Während die Holzhütten, welche Räuchermännchen aus dem Erzgebirge oder Honig aus jeder einzelnen Region Deutschlands anbieten, nur wenige Interessierte anlocken, steht man am Glühweinstand oberhalb des Brunnens am Oberstadtmarkt enger zusammen als die Mastschweine bei Tönnies. Vorjahresbilder dieser aerosollastigen Zusammenkünfte hätte man in diesem Jahr locker als Beispiele für das genaue Gegenteil von Social Distancing verwenden können.

Währenddessen werden die Ohren mit einer Auswahl der schlechtesten Weihnachtslieder der letzten 50 Jahre gequält. Songs, die mit einem so hohen Maß an Kitsch und Schmalz vollgeladen sind, dass es höchstwahrscheinlich gegen sämtliche Menschenrechtskonventionen verstößt. Letztes Jahr stand ich an der Elisabethkirche in Ermangelung anderer Aufenthaltsoptionen neben einem Kinderkarussell, welches nonstop Weihnachtslieder von Wolfgang Petry (!) abspielte, und spätestens mit diesem Erlebnis war es bei mir mit dem „Fest der Liebe“ vorbei.

Und trotz allem werde ich diesen Dezember wohl etwas vermissen. Denn die einzeln in der Stadt aufgestellten Buden geben ein ziemlich deprimierendes Bild ab, und können die übliche Weihnachtsmarkt-Atmosphäre selbstverständlich nicht ersetzen. Wenigstens schafft man so noch eine kleine Einnahmequelle für die in diesem Jahr leidgeplagten Schausteller:innen, die neben Gastronomie und Kulturbranche mit Sicherheit zu den am schlimmsten getroffenen Wirtschaftszweigen gehören.

Trotz allem freue ich mich schon jetzt ein bisschen darauf, hoffentlich im nächsten Jahr wieder mit so viel Menschen wie möglich dicht gedrängt vor einer Glühweinbude zu stehen. Ohne Abstand, mit einer Keramiktasse (wahrscheinlich immer noch in Stiefelform) in der Hand; und vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht, ziehe ich zur Feier des Tages dann auch ein Rentiergeweih auf.

FOTO: Pexels

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