Lesung mit Anne Weber: „Bannmeilen“ – Auf Streifzügen durch ein anderes Paris

Bild: Laura Schiller
Bei ihrer Lesung in Marburg nimmt Anne Weber das Publikum mit auf einen Streifzug durch die Pariser Banlieues. Unser Redakteur David Skaliks war dabei.
Als sich das Licht am 5. Februar im gut gefüllten Saal des Technologie- und Tagungszentrums Marburg (TTZ) abdunkelt und Anne Weber ans Mikrofon tritt, ändert sich auf einmal die Stimmung. Gespräche hören auf und es zieht sich eine den Abend bestimmende Ruhe durch das Publikum. Wiebke Lundius vom Marburger Literaturforum führt in den Abend ein. Sie begrüßt das Publikum und bedankt sich bei der deutsch-französischen Gesellschaft und der Stadt Marburg für die Unterstützung. Sie erwähnt auch die Anwesenheit eines studentischen Seminars der Uni Marburg unter der Leitung von Prof. Dr. Doren Wohlleben, das sich mit dem Gesamtwerk Anne Webers auseinandergesetzt hat und sich nun „einen entspannten Abschluss gönnen wollen“, so Wohlleben.
Es folgen kurze Informationen zu Anne Weber und ihrem Werk. Sie ist eine in Offenbach geborene und nun in Paris lebende Autorin, die sowohl auf französisch als auch auf deutsch schreibt. Lundius beschreibt sie als „hochdekorierte Schriftstellerin“ die schon verschiedene Preise der deutschen Literaturbranche gewonnen hat. Allem voran den deutschen Buchpreis 2020 für „Anette, ein Heldinnenepos“. Die heutige Lesung bildet den Abschluss der Lesungsreihe zu ihrem neuen Roman „Bannmeilen“.
Anne Weber beginnt ihre Lesung mit einigen Vorworten zur Entstehung des Buchs. Ein langjähriger Freund von ihr hatte den Vorschlag gemacht, mit ihr die Banlieues, also die Gegenden außerhalb der Innenstadt Paris, zu besichtigen. Es sei ein riesiges Gebiet und es gebe viel zu entdecken. Anne Weber war angetan von dieser Idee, da ihr hier auch selbst aufgefallen ist, dass sie, obwohl sie schon seit geraumer Zeit in Paris lebte, das schnelle Leben der Innenstadt Paris meist davon abgehalten hätte diese Gegenden zu besuchen. Sie hätte ja „alles vor Ort in der Innenstadt“. Sie beschreibt die Banlieues als nahe und doch irgendwie fremde Gegenden ohne Anziehungskraft, die vor allem für ihre Unruhen im Jahre 2005 bekannt sind und die ärmsten Gegenden im Umkreis Paris darstellen. Das Buch basiere dadurch auf diesen „wirklichen“ Streifzügen Anne Webers und ihrem guten Freund, stimme aber nicht eins zu eins mit diesen Überein und sollte nicht als Bericht dieser verstanden werden. Es sei ein Roman mit „sehr viel Wirklichkeit“. In Bezug auf diese Aussage beschreibt sie auch, dass ihr die Unterscheidung zwischen Fiction und Non-Fiction nicht wirklich einleuchtet und sie meist versuche, sich von dieser Kategorisierung loszusagen.
Ihre Lesung ist geprägt von einer fast schon stoischen Ruhe. Jedes Kapitel des Buchs stellt einen bestimmten Streifzug durch diese Gegenden dar. Die Lesung geschah in von Anne Weber ausgewählten Abschnitten des Buchs und wurde durch kurze Frage-und-Antwort-Runden unterbrochen. Der erste von ihr vorgestellte Abschnitt dreht sich um die Protagonistin des Buchs, die auch die Erzählerin desselben darstellt, und der „ästhetischen Darbietung“ der Banlieues. In reflektiven Ortsbeschreibungen redet sie über die „Schönheiten des als hässlich Geltenden“. In Folge der ersten Frage-und-Antwort-Runde hebt sie die Bedeutung des doppelten Blicks auf die Banlieues Paris hervor. Es sei nicht nur der Blick der Erzählerin, sondern auch die ihres Begleiters. Es sei eine „Konfrontation von Blickpunkten“. Die Rolle des ehemaligen Banlieue-Bewohners und Reiseführers würde der Rolle der „ahnungslosen weißen Europäerin“ gegenüberstehen und in einem teils ironischen Austausch miteinander, die Erfahrungen ihrer „Streifzüge“ miteinander verhandeln. Sie betont die strenge Trennung von Nationalitäten innerhalb der Banlieues und die ihr nun immer mehr einleuchtende Trennung eines „Innen und Außen“ von Paris. Es seien meist links-kommunistisch regierte Gemeinden und ihre Streifzüge erlauben ihnen einen reflektiven Einblick in verschiedene Nationalitätsempfindungen wie zum Beispiel die reflektive Erfahrung des Grabes eines französisch-algerischen Marathonläufers, der, obwohl er 1928 Olympiagold geholt hatte, in Armut verstorben ist.
In einer weiteren Fragerunde betont sie die erlebte Selbstspiegelung durch die verschiedenen Ortserfahrungen. Es sei ein „sich selbst in Frage stellen durch die Konfrontation mit dem Leben anderer“, also ein selbstreflexiver Prozess durch die Wahrnehmung der Lebensrealität innerhalb der Banlieues. Auf die Frage, ob sie sich der Gefahr des Voyeurismus dieser Lebensrealität ausgesetzt sieht, antwortet sie in ironischer Lakonie, dass sie sich der Gefahr dessen bewusst sei. Ihr Schreibprozess habe sich schleichend entwickelt. Zunächst habe sie nur einzelne Notizen gemacht, später mehr. Sie hat dazu viele Fotos mit ihrem Smartphone gemacht, um später durch Foto-Pins ihre Wege nachvollziehen zu können.
Im nächsten Abschnitt der Lesung handelt es sich um eine Unterhaltung der beiden Protagonisten mit einem ehemaligen Zeitungsträger namens „Jesus“ in einem Café. Diese Unterhaltung, die vor allem von Jesus, der „ohne Punkt und Komma“ rede, dominiert wurde, stellt ein eingängiges Beispiel für die Lebensrealität eines sein ganzes Leben in der Banlieue verbringendem Menschen dar. Er eröffnet der Erzählerin auch nochmal die Bedeutung des Mottos „Bereise nie ein Land ohne seine Bewohner“.
In der abschließenden Fragerunde beschreibt Weber, dass ihre Streifzüge nicht als Kreisbewegungen verstanden werden sollten, sondern für sie eher Zick-Zack-Bewegungen darstellen. In einer anekdotischen Aussage erwähnt sie auch ihre Abneigung gegen den Begriff „Roman“ und der Enthaltung dieses Begriffes in ihren vorherigen Werken. Ironischerweise sei es bei ihr so, dass sie im Falle der Nicht-Verwendung des Begriffs des Romans oft innerhalb von Rezensionen darauf hingewiesen würde, wieso dieser nicht verwendet worden sei. Nun sei es der Fall, dass sich verschiedene Rezensent*innen darauf berufen, dass das Buch „Bannmeilen“ eigentlich kein Roman sei. Diese Kategorisierungen seien ihr jedoch generell fremd und sie geht mit diesen Rezensionsmeinungen ähnlich ironisch pikiert um, wie ihre Erzählerin mit den Eindrücken der Banlieues.
Insbesondere im Austausch mit den Studierenden, die diese Lesung besucht haben, wurde mir wieder bewusst wie wichtig Lesungen für das Verständnis von Autor*innen sein können. Viele der Studierenden empfanden das Buch „Bannmeilen“ im Verlauf des Seminars eher als langweilig und sich im Kreis drehend, aber haben durch die Lesung einen neuen Zugang zu dem Buch erhalten können. Vor allem die von Anne Weber hervorgehobene Verwendung der Ironie der Protagonist*innen sei für viele der Studierenden erst im Laufe der Lesung wirklich zugänglich geworden. Es ist ein Buch voll Selbstreflexion und des Angebots, die Möglichkeiten wahrzunehmen, selbst mal auf Streifzüge zu gehen, um sich selbst vielleicht gerade im Austausch mit Andersartigem besser zu verstehen.
„Bannmeilen“ ist im Verlag Matthes & Seitz erschienen und kostet 25 Euro.
(Lektoriert von lurs und jub.)
studiert Literaturvermittlung in den Medien. Redaktionsmitglied seit November 2023. Kommt aus Dortmund. Ist jetzt hier.