Sneak-Review #282: Es war einmal … ein Bandwurm?

Bild: Annabell Sent
Content Warning:
Dieser Text beinhaltet Gewalt, Verstümmelung, sexualisierte Gewalt, Verwesung, Parasiten, Nacktheit, Drogen, Body Shaming, Essstörungen.
Was, wenn Cinderellas Märchenball kein Traum, sondern ein Alptraum aus Hunger, Schmerz und Schönheitswahn wäre? The Ugly Stepsister dreht den altbekannten Cinderella-Stoff durch den Fleischwolf und serviert ein verstörendes, überraschend komisches Kinoerlebnis, das einem den Appetit gründlich verdirbt – und das ist ein Kompliment.
Ein Märchen wird entstellt
Bereits die originalen Märchen der Gebrüder Grimm sind für ihren dunklen Charakter bekannt. Nun erhält der harmlose Cinderella-Mythos, bei ihnen Aschenputtel genannt, eine groteske Horror-Neuinterpretation im Spielfilmdebüt der norwegischen Regisseurin Emilie Blichfeldt.
Im Zentrum steht diesmal nicht Cinderella, sondern die ungeliebte, unterschätzte Stiefschwester Elvira (Lea Myren). Sie hegt den tiefen Wunsch, eines Tages mit dem bildschönen Prinzen (Isac Calmroth) zusammenzukommen und konkurriert dabei mit ihrer schönen Schwester Agnes (Thea Sofie Loch Næss). Dabei kämpft Elvira mit Selbstzweifeln, Essstörungen, absurder Körperoptimierung und dem obsessiven Wunsch, den Erwartungen ihrer Mutter zu genügen. Die von der Angst vor dem sozialen Abstieg getriebene Mutter Rebekka (Ane Dahl Torp) treibt ihre Tochter immer weiter in die groteske Selbstzerstörung.
Body-Horror: Wenn der Körper nicht gehorcht
The Ugly Stepsister ist ein Paradebeispiel für sogenannten Body-Horror – ein Horror-Subgenre, das sich mit der radikalen Veränderung des eigenen Körpers sowie dem Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper beschäftigt. Dabei geht es weniger um klassische Gruselmomente als um das Gefühl, dass sich der Körper gegen einen selbst wendet.
Bei Elvira äußert sich das in einem nie endenden Hungergefühl trotz zwanghaftem Schlingen von Kuchen, rudimentären Schönheitsoperationen im heimischen Badezimmer und dem Wunsch, sich buchstäblich in jemand anderen zu verwandeln.
Völlig destruktive Schönheitsideale, die ungesunde Beziehung zum eigenen Körper und die Abhängigkeit von männlicher Anerkennung werden hier nicht einfach kritisiert – sie werden grotesk überzeichnet und körperlich erfahrbar gemacht. Das ist oft widerlich, manchmal komisch, aber immer bedrückend.
Wer schön sein will, muss leiden – sehr leiden
Lea Myren als Elvira trägt den Film mit einer mutigen und körperlich fordernden Performance. Ihre Rolle ist kein klassisches Opfer, sondern eine tragische Figur voller Widersprüche: verletzlich und wütend, ekelhaft und schön, grotesk und berührend. Sie spielt sich durch absurde Szenen zwischen hohen Ansprüchen und erniedrigendem Bodyshaming mit einer Mischung aus Selbstverachtung und verzweifeltem Optimismus.
Ihre Mutter bricht mit jeglicher Idealvorstellung einer liebenden, unterstützenden Mutter. Sie ist die stille Antagonistin des Films und das Symbol jener gesellschaftlichen Erwartung, die ihre Tochter immer weiter zu selbstzerstörerischem Verhalten drängt. Die restlichen Figuren sind bewusst karikaturhaft überzeichnet – besonders die „perversen Männer“ mit ihren sabbernden Blicken und objektifizierenden Sprüchen erinnern mehr an Alpträume als an Menschen. Das Ensemble fügt sich so nahtlos in die surreale Alptraumlogik des Films ein.
Ein Film, nach dem man keinen Kuchen mehr essen will
Body-Horror ist ein ganz eigenes Erlebnis und als solches Geschmackssache. Während es vielen zu viel ist, erfreuen sich andere an dem Nervenkitzel einer bitterbösen Horrorkomödie, die das Publikum immer weiter treibt. The Ugly Stepsister geht unter die Haut, in den Magen und tief ins Unterbewusste. Einige Zuschauer*innen gaben Schreie von sich, andere versanken im Sitz und wieder andere gaben in der Vorstellung sogar ihre Nacho-Boxen auf. Auch ich kann für mindestens eine Woche keinen Kuchen mehr essen. Auch die Bewertung am Ende war zwiegespalten: So bekam der Film 58 Prozent positive und 42 Prozent negative Bewertungen.
Allein die Länge der Content Warning zu Beginn des Textes ist eine Ansage: Wem Body-Horror überhaupt nicht zusagt, sollte einen weiteren Bogen um diesen Film machen. Wer dem etwas abgewinnen kann, findet mit The Ugly Stepsister ein sehenswertes Juwel dieses Genres mit praktischen Effekten und mehr Botschaft als manch anderer Film, den es bereits in der Sneak gab.
studiert Mathematik im Master. Aber ansonsten ist er ganz lieb.
Seit WiSe 2024/25 bei PHILIPP. Kommentiert Filme mit mehr Drama als die Filme selbst.