Von Iowa nach Marburg: Ein Abend mit Stefanie Sargnagel

Bild: Laura Schiller
Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen. Warum hat mir der Mut gefehlt? Es liegt nicht an ihrem Status als bekannte Schriftstellerin. Wenn sie im Buch erzählt, wie sie im Onesie vor dem Fernseher fläzt, von ihren Erfahrungen im Online-Dating berichtet und davon, wie schwierig es sein kann, sich mit dem Älterwerden zu beschäftigen, dann kommt man ihr durch das Buch näher. Es liegt auch nicht an fehlender Vorbereitung. Ich habe ihren Roman mittlerweile dreimal gelesen, das Hörbuch gehört und kann Teile des Textes bereits auswendig mitsprechen. Es liegt auch nicht an fehlender Überzeugung, denn ich werde nicht müde, das Buch allen Menschen zu empfehlen, die ich kenne. Ihre Selbstironie und schonungslose Ehrlichkeit begeistern mich.
Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen. Aber jetzt ist da nur eine Bühne. Ein schlichter Holztisch, bedeckt mit einem schwarzen Samttuch, daneben ein Mikrofon. Der Raum im KFZ Marburg füllt sich mehr und mehr mit Menschen unterschiedlichster Altersstufen. In wenigen Minuten wird Stefanie Sargnagel, Autorin und Cartoonistin die Bühne betreten, um aus ihrem Roman Iowa – Ein Ausflug nach Amerika vorzulesen, der 2023 erschienen ist. 2024 landete der Roman auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ich hätte sie treffen können. Ein Interview mit der Autorin führen können, die mich so fasziniert. Ich wollte. Aber ich habe mich nicht getraut.
Ein literarischer Ausflug in die amerikanische Provinz
Iowa handelt von Sargnagels eigener Reise in den Mittleren Westen der USA, genauer gesagt in das kleine Örtchen Grinell im Bundesstaat Iowa. Dort soll sie an einem College kreatives Schreiben unterrichten. Vor der Reise nach Iowa wurde sie noch nie als Dozentin eingeladen. Zu kontrovers sei sie in ihren literarischen und privaten Aussagen, zu wenig Repräsentantin der „österreichischen Hochkultur“. Begleitet wird sie auf der Reise von ihrem Idol Christiane Rösinger, nach Sargnagels Aussage eine Indie-Legende, die in den 90er Jahren die erste deutsche Girl-Band, die „Lassie Singers“ gründete. Die „Speerspitze feministischer Kunst“, wie Sargnagel das Duo betitelt, reist also gemeinsam nach Amerika. Ich hätte sie gerne gefragt, wie es sich für sie anfühlt sich Schriftstellerin zu nennen. Ob es so romantisch ist, wie ich es mir vorstelle? Ist der Druck, Ansprüchen von Leserinnen und Lesern und vor allem sich selbst zu genügen, nicht belastend?
Das Buch umreißt auf 300 Seiten Online-Dating, Kritik an Klassenverhältnissen und Wohnungspolitik bis zu Reflexionen über das Dasein als Künstlerin. Stefanie Sargnagel ist zum Zeitpunkt der Handlung 37, Christiane Rösinger 62. In der Einöde Iowas lernen sich die beiden Protagonistinnen näher kennen. Daraus ergibt sich eine generationsbedingte Komik. Rösinger erwähnt immer wieder Sargnagels Handy und Social Media-Sucht und stülpt ihr dabei gerne die „Rolle des verweichlichten Millenials“ über. Sie selbst nimmt häufig die klischeehafte Rolle einer Boomerin ein, die sich mit moderner Technik schwer zurechtfindet und dieser eher kritisch gegenübersteht, etwa wenn ihr Handy am Flughafen ausfällt, weil sie versehentlich seit neun Stunden die Stoppuhr hat laufen lassen. Sargnagel und Rösinger sprechen über Körperideale, Kinderwünsche und die Vor- und Nachteile des Älterwerdens. Im Buch hinterlässt Rösinger Fußnoten, die Sargnagels Aussagen im Text humorvoll kommentieren und richtigstellen sollen.
Ein Tipp am Rande: Wer die Möglichkeit hat eine Lesung mit Christiane Rösinger zu besuchen, sollte sie nicht verpassen. Sie liest die Fußnoten hier selbst ein und sorgt für die musikalische Untermalung des Abends.
Geschichten aus Iowa: Von Mastschweinen, Pelikanen, Popcorn und Klischees
Die Autorin betritt die Bühne. Bevor sie jedoch mit der Lesung beginnt, stellt sie klar: Wer eine politische Analyse der Geschehnisse in den USA erwartet, ist hier falsch. Stattdessen dreht sich der Inhalt um ihre und Rösingers persönliche Erfahrungen mit dem Land, den Menschen, der Kultur. Und Iowa hat einiges zu bieten: das Zentrum der Mastschweinzucht, den größten Truckstopp und den größten Popcornball Amerikas. Das College in Grinnell, an dem Stefanie Sargnagel unterrichten soll ist ein Gegenpol: ein diverser und liberaler Mikrokosmos mitten in der amerikanischen Provinz.
Beim Lesen habe ich mich in der Rolle der handyabhängigen Autorin wiedererkannt. Meine Notizen über den heutigen Abend schreibe ich in ein kleines Heft, statt in die Notizen App meines Smartphones. Ob Rösingers technikkritische Haltung während der Reise wohl auch Sargnagels Perspektive auf Social Media verändert hat?
Der Raum im KFZ ist dunkel, nur der kleine Tisch, an dem die Autorin sitzt ist beleuchtet. Sie liest meine Lieblingsstelle im Roman vor. Die, in der die beiden Protagonistinnen einen Ausflug nach Dubuque unternehmen und eine Begegnung mit einem Schwarm Pelikane haben. Es ist meine Lieblingsstelle, weil der sonst so reale Reisebericht hier plötzlich humorvoll ins Fiktive kippt: Sargnagel beschreibt, wie Rösinger singend auf einem der Pelikane davonfliegt. Ich frage mich, warum die Autorin hier diesen Bruch eingebaut hat. Ich hätte sie gerne über all meine Lieblingsstellen im Roman ausgefragt.
Sargnagel jagt in ihrem Buch amerikanischen Klischees bewusst nach. Sie beschreibt die unendlich vielen Hot-Dog-Sorten an Tankstellen, die gigantischen Dimensionen amerikanischer Supermärkte und lässt sich mit Waffen fotografieren. Sie beschreibt ehrlich, ohne zu beschönigen, aber auch ohne dabei über das Land oder seine Gesellschaft zu urteilen. Wenn sie etwa das oftmals fettige, überzuckerte Essen beschreibt, das ihr eigentlich nicht schmeckt, schildert sie es trotzdem voller Neugier. Amerika ist für sie eine „psychedelisch-grelle Farblandschaft, alle Simpsons-Folgen auf einmal“.
Während die Autorin von ihren Erlebnissen in den USA erzählt, stolpere ich einige Male über meine eigenen Vorurteile: Fast-Food, Menschen in Camouflage-Outfits, hundert Sorten Erdnussbutter. So in etwa habe ich mir die USA immer vorgestellt. Das sich viele meiner Klischees bestätigen, bringt mich zum Schmunzeln. Die USA als Reiseziel haben mich nie wirklich gereizt, und doch beeindruckt mich, wie Sargnagel die Eigenarten des Landes beschreibt. Nichts klingt hämisch. Im Gegenteil: Es wirkt, als freue sie sich, das alles erleben zu dürfen. Und gerade, weil sie sich freut, wünsche ich mir plötzlich auch, das alles einmal zu erleben.
Eine Lesung zwischen Witz und Wehmut
Die Stimmung im Publikum ist ausgelassen. Gelächter wechselt zu leisem Tuscheln, wenn Sargnagel eine besonders schonungslose Stelle vorliest. Ihre ironischen Zwischenkommentare heben die Stimmung noch weiter. Die Lesung dauert eine gute Stunde, nach dem Schlusswort folgt tosender Applaus. Dann lädt die Autorin zu einer Autogramm- und Selfie-Stunde ein.
Jetzt wäre die Gelegenheit. Ich könnte Stefanie Sargnagel jetzt noch treffen, ihr ein paar Fragen stellen, mit ihr reden.
Ich stehe am Ausgang, mein Iowa-Exemplar in der Hand, den Blick auf den Signiertisch gerichtet. Noch ist sie nicht da. Ich stehe in der Türe und schwanke zwischen Angst und Entschlossenheit. Der Kampf dauert einige Minuten an. Dann ist mir klar, ich werde es schon wieder bereuen. Und drehe mich um.
Iowa – Ein Ausflug nach Amerika erschien 2023 im Rowohlt Verlag. Gebundene Ausgabe: 22 Euro, Taschenbuch: 14 Euro, E-Book: 17,99 Euro.
ist seit Oktober 2024 bei PHILIPP, studiert PoWi und Neuere deutschsprachige Literatur, weiß (fast) alles über die Simpsons und kann "Faust" auswendig zitieren.
Sehr interessanter und spannender Bericht – macht Lust aufs Buch!