Sneak-Review #278: Krieger-Epos in den Schweizer Alpen

Bild: Laura Schiller
Ein Nationalheld in spe kämpft gegen eine brutale Besatzung in den Alpen: Wilhelm Tell nimmt uns mit auf eine bildgewaltige Reise durch Schillers Klassiker. Trotz epischer Länge und pathetischer Dialoge entfaltet der Film eine spannende Mischung aus Action und Drama.
Heldenmut vor Alpenpanorama
1307: Die österreichische Habsburger-Monarchie herrscht mit harter Hand über Teile der Schweiz und unterdrückt die Bevölkerung. Der Bauer Baumgarten (Sam Keeley) flieht und trifft auf den Jäger und Familienvater Wilhelm Tell (Claes Bang). Zusammen mit seiner Armbrust stellt er sich dem tyrannischen Landvogt Gessler (Connor Swindells) entgegen und vereint die einzelnen Schweizer Dorfschaften im berühmten Rütlischwur. Im Nationalmythos steigt er so zum Symbol gegen die feindliche Besatzung und für die unabhängige Schweiz auf.
Vom Nationalmythos auf die Leinwand
Die Geschichte ist – wie bei einem Nationalmythos zu erwarten – recht simpel gehalten. Gut und Böse werden sehr deutlich getrennt: der liebende Familienvater gegen die mordenden, vergewaltigenden und Dörfer niederbrennenden österreichischen Soldaten. Der hinterlistige Habsburger König trägt sogar eine stereotypische Augenklappe.
Dennoch behandelt der Film die Grautöne, die mit einem Widerstandskampf einhergehen. In einem solchen Krieg werden nicht nur Held*innen geboren, sondern vor allem Opfer gezählt. Tell ist sich dessen bewusst und merklich am Hadern, was ihn zu einem gelungenen Protagonisten macht. Seit seiner Rückkehr aus den Kreuzzügen wünscht er sich ein ruhiges Leben, sieht auf der anderen Seite aber das Unheil, welches von der Fremdherrschaft ausgeht.
Auch merkt man dem Film an, dass versucht wurde, den weiblichen Charakteren mehr Raum zu geben als in der Vorlage. Suna (Golshifteh Farahani) und Gertrude (Emily Beecham) sind die Ehefrauen der beiden Männer Tell und Rudenz (Jonah Hauer-King), die den Kern der Widerstands-Bewegung bilden. Sie haben klare Interessen und bringen diese stark mit ein. So ist gerade Gertrude eine laute Stimme für den Widerstand, während Suna stets einen besorgten Blick auf mögliche Verluste hat und als Mutter eines Sohnes auch um dessen Wohl besorgt ist. Nichtsdestotrotz bleiben sie für die übergeordnete Geschichte primär nur emotionale Fallhöhe für die männlichen Protagonisten.
„Ein Kelch, ein Herz“ – Patriotisches Pathos
Die Handlung bleibt Schillers Werk weitestgehend treu, welches sich wiederum am Schweizer Nationalmythos aus dem 15. Jahrhundert orientiert. Ergebnis dessen ist ein historisches Filmepos mit einer großen Menge an patriotischem Pathos. Die Musik ist anspornend, die Kämpfe heroisch und die Moral liegt eindeutig auf der Seite der Protagonisten.
Eine solche Überhöhung von Nationalismus und einzelnen Menschen ist Geschmackssache, für einige kann das eine unangenehme Erfahrung werden. Die Motivationsreden – und hiervon gibt es viele – sind so sehr mit Patriotismus, Identitätsbekenntnis und Aufopferungsbereitschaft durchzogen, dass sie teilweise unfreiwillig komisch wirken.
Befreiungskampf in Zeitlupe
Wilhelm Tell beeindruckt mit atemberaubenden Aufnahmen der Alpen und einer guten Portion Spannung, besonders in den sorgfältig inszenierten Kampfszenen. Doch trotz dieser Stärken hat der Film mit seiner epischen Dauer von 133 Minuten zu kämpfen. Schon nach der Hälfte spürt man die Längen, gerade weil einige Dialoge hölzern und überinszeniert wirken und eher an ein Theaterstück erinnern als an authentische Gespräche. Das ist allerdings nicht verwunderlich, schließlich ist Schillers Werk als Schauspiel konzipiert. Vergleichsweise kurz erzählt sich das Ende, was etwas gehetzt und zusammengeklebt wirkt und fast den Eindruck erweckt, als bereite man eine Fortsetzung vor.
Vom Klassenzimmer auf die Leinwand und zurück
Schiller und seine Werke sind vielen bereits in der Schule begegnet. Man merkte einigen im Publikum an, dass sie nicht damit gerechnet hatten, ihn nun nicht im Klassenzimmer, sondern im Kinosaal anzutreffen. So gab es, als der Film mit einem Zitat begann und dann Schiller als Autor angezeigt wurde, ungläubiges Gelächter. Als der Filmtitel eingeblendet wurde, erklang hinter mir ein liebliches “Jetzt haben die Scheiße schon im Kino, ich pack’s nicht”. Auch ich empfand es als etwas surreal, als es Game Of Thrones-ähnliche Ortseinblendungen mit Die Habsburg oder Dorf Attinghausen gab.
Trotz der anfänglichen Skepsis erhielt Wilhelm Tell vom Sneak-Publikum 58 % gute und 23 % sehr gute Bewertungen. Der Anteil der sehr guten Bewertungen wäre wohl ohne die Überlänge und etwas Mut, einige Szenen ganz zu streichen, noch höher gewesen.
Wir haben in der Schule am Ende einer Unterrichtseinheit fast immer Verfilmungen der behandelten Lektüren geschaut – meistens waren diese eher lauwarme Interpretationen. Ich hätte diese Verfilmung von Wilhelm Tell, in der deutlich mehr Budget steckt und die die Geschichte von einer kleinen Bühne in das weitreichende Alpenland transportiert, denen mit Laiendarsteller*innen definitiv vorgezogen. Vielleicht werden nun die Unterrichtsstunden für zukünftige Generationen etwas interessanter – vorausgesetzt, die Altersfreigabe ab 16 Jahren verhindert nicht, dass er tatsächlich in Klassenzimmern gezeigt werden kann.
Die Produktion aus dem Vereinten Königreich und Italien startet am 19. Juni 2025 in den deutschen Kinos.
studiert Mathematik im Master. Aber ansonsten ist er ganz lieb.
Seit WiSe 2024/25 bei PHILIPP. Kommentiert Filme mit mehr Drama als die Filme selbst.