Befreiung oder Stunde Null? – Symposium zum 8. Mai 1945 in Marburg

Bild: Laura Schiller
Der 8. Mai steht jedes Jahr im Mittelpunkt erinnerungspolitischer Debatten – nicht zuletzt bezüglich der Frage, ob dieses Datum in Deutschland zu einem offiziellen Feiertag erklärt werden sollte. Anlässlich des 80. Jahrestags des Kriegsendes in Europa wurde in Marburg mit einem Symposium und einer Ausstellung an dieses historische Ereignis im Jahr 1945 erinnert. Organisiert wurde die Veranstaltung durch das International Research and Documentation Centre for War Crimes Trials (ICWC) in Kooperation mit der Universitätsstadt Marburg, dem Staatsarchiv Marburg und dem Hessischen Landesarchiv. Das Symposium im Erwin-Piscator-Haus richtete sich nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum, sondern auch an eine breitere interessierte Öffentlichkeit. Im Rahmen eines Vortrages, einer Diskussionsrunde und einer Ausstellung zur Situation in Marburg um 1945 wurden verschiedenste historische und erinnerungspolitische Perspektiven auf das Kriegsende beleuchtet.
Einführung in die Veranstaltung
Die Veranstaltung begann mit einer Begrüßung durch den ICWC-Geschäftsführer Henning de Vries, der alle Anwesenden zum Nachdenken über die Bedeutung des 8. Mai einlud. Die ausführlichere Einführung in das Thema erfolgte anschließend, indem Co-Direktor Eckart Conze über den heute häufig verwendeten Begriff „Tag der Befreiung” sprach. Er hob hervor, dass diese Bezeichnung aus deutscher Sicht „schwierig bleibt” und als retrospektiver Begriff der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung nicht gerecht werde. Des Weiteren könne diese Bezeichnung die deutsche Bevölkerung unrechtmäßig auf eine Stufe mit überfallenen Nachbarländern und den innerhalb von Deutschland verfolgten Menschen setzen.
8. Mai: Tag der Befreiung oder Stunde Null?
Im Anschluss an die kurzen, aber sehr anregenden Begrüßungen durch die beiden Vertreter des ICWC folgte ein Vortrag des Historikers Martin Sabrow vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Im Rahmen seiner lebhaften Ausführungen legte er die Aufmerksamkeit zunächst auf die Geschichte des Umgangs mit dem 8. Mai in Deutschland. In der zeithistorischen Wahrnehmung sei dieser Tag des Kriegsendes zwar mit Erleichterung aufgenommen worden, das Verständnis als Befreiung sei jedoch bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht vorhanden gewesen.
Während der 8. Mai in der DDR als Feiertag der Befreiung vom Faschismus begangen wurde, blieb es in den folgenden Jahren in Westdeutschland bei einem „verschämten Umgang” mit dem Datum. Das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus fand, wenn überhaupt, in einem regionalen Kontext ohne einen übergreifenden Termin statt. Ein Wandel in der Wahrnehmung des 8. Mai zeigte sich in der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag 1985. Erstmals sprach der Inhaber eines hohen politischen Amtes öffentlich vom „Tag der Befreiung”. Die bis dahin immer noch verbreitete Empfindung des Kriegsendes als ein Tag der Niederlage wurde von Jahr zu Jahr schwächer.
Sabrow sprach daraufhin von einem weiteren Ausdruck, der „Stunde Null”, die mit dem Ende des Krieges in Deutschland verbunden wird. Er interpretiert diese Bezeichnung durchaus als geeignet, um die Realität der Zeitzeugen zu beschreiben, die von einer vollständigen Ahnungslosigkeit über die Zukunft geprägt war. Insgesamt resümierte er, dass der Begriff der „Stunde Null” sehr gut das Zeitempfinden nach der Kapitulation beschreibt, während die Bezeichnung „Tag der Befreiung” ein nachträgliches Verständnis des Datums ausdrückt.
Sabrow ging dabei noch einmal darauf ein, dass der Ausdruck der Befreiung als ein problematisches Opferverständnis interpretiert werden kann, das von vielen Deutschen bereitwillig angenommen wurde, um sich auf eine Stufe mit anderen Opfern zu stellen. Daraus schließend plädierte er für eine Aufarbeitung des 8. Mai und des Zweiten Weltkriegs, die weniger an solche festen Begriffe geknüpft ist. Martin Sabrow schaffte es, einen sehr informativen Vortrag lebendig zu präsentieren und mit vielen passenden Zitaten von Zeitzeugen zu untermalen.
Neue Anknüpfungspunkte zur Erinnerung an den Nationalsozialismus
In der darauffolgenden Diskussion mit vier Teilnehmer*innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen lag der Fokus weniger auf der Interpretation des 8. Mai. Stattdessen sprachen sie mehr über die heutige Aufarbeitung und die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg. Dabei brachten alle Beteiligten ihre unterschiedlichen Perspektiven aus den eigenen Fachgebieten ein. So wies etwa der Osteuropa-Historiker Martin Aust darauf hin, dass die Opfer aus Osteuropa in der bisherigen deutschen Erinnerungskultur kaum Platz finden. Die Friedens- und Konfliktforscherin Sabine Mannitz hob hervor, dass Streiten um die Deutung der Geschichte, wie etwa bei Diskussionen über die passende Bezeichnung des 8. Mai, einen wichtigen Teil der Aufarbeitung von Konflikten darstellt.
Die Diskussion bezog sich hauptsächlich auf die Frage, wie sich die Aufarbeitung des Nationalsozialismus heute weiterentwickelt und durch zusätzliche Impulse ergänzt werden kann. Alle Teilnehmer*innen stimmten dabei dem Historiker Christoph Cornelißen zu, der sich für eine intensive Auseinandersetzung mit den Diskussionen in anderen europäischen Ländern aussprach. Durch die Berücksichtigung anderer europäischer Perspektiven ließe sich auch bei der Reflexion der eigenen Diskurse neue Erkenntnisse gewinnen. Auf die Frage, welche Anknüpfungspunkte geeignet seien, um die Erinnerung an den Nationalsozialismus besonders für jüngere Generationen lebendig zu halten, antwortete die Marburger Literaturwissenschaftlerin Hania Siebenpfeiffer zunächst mit: „Literatur lesen”. Dadurch ließe sich eine historische Anknüpfung erreichen, insbesondere weil die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges heute so weit weg erscheinen. Die Teilnehmer*innen waren sich erneut einig, dass die Literatur anschließend möglichst kontextualisiert werden sollte, um systematische Erkenntnisse über die Zeit vermitteln zu können.
Als weitere Anknüpfungspunkte wurde die Schaffung von lokalen Gedenkorten zur Aktualisierung der Erinnerungskultur vorgeschlagen. In ihren Abschlussworten appellierten die Sprecher*innen an alle Zuhörenden, sich nicht nur weiter mit der Thematik des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, sondern auch mit weniger interessierten Personen darüber zu sprechen. Im Gegensatz zum vorherigen Vortrag lag der Fokus der Diskussion hauptsächlich auf der Aufarbeitung und Erinnerung und weniger spezifisch auf dem 8. Mai 1945.
Ausstellung „1945 in und um Marburg“
Zum Abschluss der Veranstaltung wurde die Ausstellung „1945 in und um Marburg” mit einer Rede des Oberbürgermeisters Thomas Spies eröffnet. In seiner Ansprache lobte er die Ausstellung dafür, dass sie die Ambivalenz zwischen dem heute häufig verbreiteten Verständnis des 8. Mai als ein Tag der Befreiung und der Erfahrung der Zeitzeugen widerspiegele. Zusätzlich zeige sie auch die besondere Stellung von Marburg als eine Stadt, die von der Zerstörung des Zweiten Weltkrieges weitgehend verschont blieb.
Nachdem sich der Vortrag und die Diskussion im ersten Teil des Symposiums hauptsächlich mit der nationalen Erinnerung an den 8. Mai und den Nationalsozialismus beschäftigten, liegt der Fokus der Ausstellung auf einer Marburger Perspektive. Sie zeigt mithilfe der Erinnerungen und Tagebucheinträge verschiedener Zeitzeugen sehr ansprechend das Leben während und nach dem Nationalsozialismus in Marburg. Die Ausstellung schafft es dabei, diese persönlichen Erfahrungen gut in den historischen Überblick zu integrieren. Wer sich für diesen Teil der Marburger Geschichte interessiert, kann sie noch bis zum 27. Juni kostenlos im Erwin-Piscator-Haus besichtigen.
Zum Abschluss des Symposiums wurde der Film „Der Untergang” (2004) mit einer wissenschaftlichen Kommentierung im Capitol gezeigt. Seit dem 15. Mai lässt sich außerdem eine Ausstellung zum Thema „Marburger Frauen im Nationalsozialismus” in der Universitätsbibliothek besichtigen.