Was prägt unser Leben? Das HLTM-Stück „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“

Was prägt unser Leben? Das HLTM-Stück „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“

Foto: Jan Bosch, Collage: Laura Schiller

Wie prägt soziale Herkunft unser Leben? Diese zentrale Frage verhandelt das Hessische Landestheater Marburg (HLTM) in seiner eindringlichen Inszenierung des Werks „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ von Didier Eribon, welche am 30. November 2024 seine Premiere feierte. In diesem begibt sich der Autor auf die Spurensuche nach der Biografie seiner Mutter, nachdem diese nach einem langen Leben verstorben ist. Es ist ein intensiver Dialog zwischen dem Autor und seiner Mutter, die zu ihrer Lebzeit in einem Glaswerk gearbeitet hat.

Das Stück changiert geschickt zwischen einer förmlichen Buchlesung und lebhaften Dialogen zwischen Mutter und Sohn. Dieser Kontrast spiegelt den zentralen Konflikt wider: Ein Sohn aus der Arbeiterklasse, der durch sein Studium einen sozialen Aufstieg erlebt, konfrontiert seine Mutter mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Hierbei werden gekonnt tiefgreifende gesellschaftliche Fragen thematisiert. Wie verändert sozialer Aufstieg die Beziehung zwischen Eltern und Kindern? Was verbindet uns mit unseren Familienmitgliedern jenseits der DNA? Wie beeinflusst das Altern unsere Identität und Freiheit?

Ein Leben voller Herausforderungen

Im Zentrum der Inszenierung steht die Lebensgeschichte der Mutter, die emblematisch für die Herausforderungen und Entbehrungen der Arbeiterklasse steht. Die Protagonistin wurde in einem Waisenhaus geboren und durchlebte ein Leben voller Herausforderungen und Entbehrungen. Ihre Kindheit war geprägt von Einsamkeit und Strenge, die sie im lieblosen Umfeld des Waisenhauses ertragen musste. Bereits in jungen Jahren begann sie als Dienstmagd zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Später führte sie eine 55-jährige Ehe mit einem kontrollsüchtigen Mann, der ihr Leben stark einschränkte und sie in ein enges Korsett aus Abhängigkeit zwang. Auch ihr Arbeitsalltag in einer Glasfabrik war von harter körperlicher Arbeit und wenigen Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung geprägt. Trotz dieser Widrigkeiten zieht sich ein unerschütterlicher Überlebenswille wie ein roter Faden durch ihre Biografie.

Erstmals war der Roman von Didier Eribon auf einer Bühne zu sehen und wurde durch Cornelius Eribson eigens für diese Inszenierung hingebungsvoll und mit voller Achtung vor dem Werk adaptiert. Die Inszenierung beeindruckt durch ihre emotionale Tiefe und thematische Präzision. Chrystel Guillebeaud, Saskia Boden- Dilling und Christian Simon tragen mit ihrem nuancierten Schauspiel dazu bei, dass die komplexen Dynamiken zwischen Mutter und Sohn authentisch und berührend wirken. Besonders die Gegensätze zwischen den Figuren – die akademische Perspektive des Sohnes und die pragmatische, von Lebenserfahrungen geprägte Haltung der Mutter – werden von den Darsteller:innen mit großem Feingefühl herausgearbeitet. Sandra Strunz’ Regie verstärkt diesen Kontrast, indem sie intime Dialoge mit stilisierten Lesungen verbindet und so die Spannung zwischen persönlichem Schmerz und gesellschaftlicher Reflexion erlebbar macht.

Eine Inszenierung die eine Geschichte zum Leben erweckt

Das Bühnenbild unterstreicht diese Dualität: Schlichte, funktionale Elemente erinnern an die Arbeitswelt der Mutter, während die sparsame Lichtregie die Stimmungen der einzelnen Szenen subtil hervorhebt. Die Inszenierung schafft es dadurch, Didier Eribons Werk eine eigene theatralische Stimme zu verleihen, die nicht nur berührt, sondern auch zum Nachdenken anregt und gesellschaftliche Strukturen gekonnt hinterfragt. Das Stück zeichnet sich zwar durch eine sehr akademische Sprache aus, doch diese birgt die Gefahr, für Menschen außerhalb dieser Bildungsschicht potenziell ausgrenzend zu sein. Obwohl das Werk den Klassenkonflikt thematisiert und ein Bewusstsein für Klassenunterschiede im Publikum schärft, scheint es sich in seiner Ansprache vor allem an ein akademisch gebildetes Publikum zu richten. Hier wäre eine stärkere sprachliche Öffnung wünschenswert gewesen, um eine breitere Zielgruppe anzusprechen und die zentrale Botschaft des Stücks für mehr Menschen zugänglich zu machen. Das Stück könnte so nicht nur intellektuell anregen, sondern auch emotional breitere Kreise ziehen, indem es die Barrieren zwischen den Bildungsschichten weiter aufbricht. Eine solche Öffnung würde der Inszenierung nicht nur mehr gesellschaftliche Relevanz verleihen, sondern auch Didier Eribons Anliegen, die Dynamiken von Klasse und Macht sichtbarer zu machen, konsequent weiterführen.

(Lektoriert von lurs und jub)

ist seit Oktober 24 bei Philipp, kommt aus dem Allgäu, studiert im Kombi Bachelor Politikwissenschaft und Friedens und Konfliktforschung und liebt veganen Frischkäse

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