Arbeiterkind in den Geisteswissenschaft – Die ständige Verteidigung vor dem Familiengericht

Arbeiterkind in den Geisteswissenschaft – Die ständige Verteidigung vor dem Familiengericht

Bild: Elija Ash Kücken

Die Vorweihnachtszeit ist für mich die schönste im Jahr – voller Plätzchenduft, leuchtender Weihnachtsmärkte und festlich geschmückter Innenstädte. Doch sie ist auch die Stressigste. Denn spätestens am Esstisch erwartet mich wieder die alljährliche Frage: Was willst du eigentlich mit deinem Abschluss machen? Eine Frage, die für viele Studierende aus Arbeiterfamilien nicht einfach nur neugierig gemeint ist, sondern mit einem ständigen Rechtfertigungszwang einhergeht. Hätte es nicht auch eine Ausbildung getan? Nein. So wie ich sind viele Studierende die ersten in ihrer Familie, die den akademischen Weg wählen. Sie sind Arbeiterkinder. Was oft als Aufstieg wahrgenommen wird, ist für uns ein langer Weg durch endlose Diskussionen mit der Familie. Besonders schwierig wird es, wenn es um Geisteswissenschaften geht. Fächern wie Philosophie, Germanistik oder Kunstwissenschaft fehlt oft die Anerkennung, weil sie als „brotlos“ oder „unnütz“ abgestempelt werden. Am Esstisch fällt dann gern die Frage: Wäre ein richtiges Studium nicht besser gewesen? Doch Geisteswissenschaften sind ein richtiges Studium – auch wenn viele ihren Wert nicht verstehen.

Die Herausforderung als Arbeiterkind

Ein Studium zu beginnen ist für Arbeiterkinder eine Leistung. Laut dem Hochschulbildungsreport 2021 schaffen es 79 Prozent der Akademikerkinder an die Uni, aber nur 27 Prozent der Arbeiterkinder. Warum? Arbeiterkinder haben oft keine Eltern, die bei Hausaufgaben helfen oder über das Bildungssystem Bescheid wissen. Nachhilfe ist teuer, und Begriffe wie „Prüfungsordnung“ oder „BAföG“ sind häufig Fremdwörter. Das macht den Weg an die Hochschule steinig. Finanziell können nur 15 Prozent der Studierenden aus Arbeiterfamilien auf ihre Eltern zählen. Viele müssen nebenbei arbeiten, was das Studium zusätzlich belastet. Mentale Barrieren, Informationslücken und fehlende Ressourcen werden so zu unüberwindbaren Hürden.

Familie prägt Berufswahl

Die meisten Informationen zur beruflichen Orientierung beziehen Jugendliche von ihren Eltern, heißt es in einer Studie des Sinus-Instituts in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit. Das Problem: In Arbeiterfamilien wird oft der sicherste Weg gewählt – der bekannte. Die Eltern können nur begrenzt beraten, weil ihnen oft selbst das Wissen über akademische Bildung fehlt. Prof. Dr. Thorsten Bührmann sagt: „Eine zentrale Aufgabe der Eltern liegt in der individuellen Prozessbegleitung – durch praktische, finanzielle und beratende Unterstützung.“ Doch gerade diese Unterstützung fehlt häufig.

Vorurteile gegen Geisteswissenschaften

Während meines Studiums der Literatur wurde besonders von meiner Familie immer wieder auf ein Klischee der Geisteswissenschaft eingegangen: Das ist unnütz und du wirst damit nie Geld verdienen können. Diese gesellschaftlichen Vorurteile sind bereits weit verbreitet. Der Philosoph Dieter Teichert bringt diese Haltung treffend auf den Punkt: „Wer keinen Nutzen seiner Tätigkeit nachweisen kann, hat keinen Anspruch darauf, ernst genommen zu werden.“ Doch das lässt sich von den Geisteswissenschaften nicht behaupten. Sie fördern kritisches Denken und kulturelles Verständnis. Die Geisteswissenschaften sind für die Gesellschaft genauso wichtig wie wirtschaftlicher Erfolg. Sie prägen unser Leben: Museen, Theater, Zeitungen, Fernsehen, Radio, Werbeplakate und sogar in Videospielen. Ein Blick in den Report der Agentur für Arbeit von Juni 2024 zeigt: Die Erwerbstätigkeit von GeisteswissenschaftlerInnen ist nicht nur gestiegen, sie werden auch in immer mehr Branchen geschätzt – wegen ihrer Vielseitigkeit. Ohne die Geisteswissenschaften gäbe es viele Errungenschaften der heutigen Wissensgesellschaft nicht. So könnte die Mathematik ohne Geisteswissenschaftler*innen der Geschichts- und Übersetzungswissenschaften die Erkenntnisse der Antike nicht lesen und mit ihnen weiterarbeiten.

Ein Appell für die Zukunft

Ja, es ist schwer, als erstes Familienmitglied ein Studium zu absolvieren. Besonders, wenn die Gesellschaft und manchmal auch die eigene Familie Steine in den Weg legen. Es wird Zeit, Vorurteile abzubauen – gegen Geisteswissenschaften und gegen Arbeiterkinder. Es sollte keine Rolle spielen, welchen Bildungsweg unsere Eltern hatten. Es sollte zählen, was wir leisten und wie wir die Gesellschaft bereichern. Geisteswissenschaften schaffen das Fundament für kritisches Denken und kulturelles Verständnis – Fähigkeiten, die heute wichtiger sind, denn je. Der Wert eines Studiums sollte nicht nur an Einkommen oder Prestige gemessen werden. Studierende aus Arbeiterfamilien leisten doppelte Arbeit: Sie überbrücken soziale und kulturelle Gräben und zeigen, dass Bildung ein Weg zur gesellschaftlichen Vielfalt ist. Und an alle Familien: Seid stolz auf eure Kinder.

(Lektoriert von ans und jms.)

2 Gedanken zu “Arbeiterkind in den Geisteswissenschaft – Die ständige Verteidigung vor dem Familiengericht

  1. Zitat Ethan Hawke: „Well…most people don’t spend a lot of time thinking about poetry. Right? They have a life to live, and they’re not really that concerned with Allen Ginsberg’s poems or anybody’s poems, until their father dies, they go to a funeral, you lose a child, somebody breaks your heart, they don’t love you anymore, and all of a sudden, you’re desperate for making sense out of this life… ‚Has anybody ever felt this bad before? How did they come out of this cloud?‘ Or the inverse…something great. You meet somebody and your heart explodes. You love them so much, you can’t even see straight. You know, you’re dizzy. ‚Did anybody feel like this before? What is happening to me?‘ And that’s when art’s not a luxury, it’s actually sustenance. We need it.“

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