Chris Herz liest in der Cavete oder: „wie er immer wieder lachend in die Kreissäge sprang“

Chris Herz liest in der Cavete oder: „wie er immer wieder lachend in die Kreissäge sprang“

Foto: Paul Ohlmann

Dass Marburg eine literarische Stadt ist, ist offensichtlich. In der Oberstadt reihen sich Buchhandlungen aneinander. Das Marburger Literaturforum existiert schon seit über 30 Jahren. Lesungen und offene Lesekreise gibt es in dieser Stadt fast wöchentlich. Meistens jedoch findet alles innerhalb eines mehr oder weniger akademisch-intellektuellen Kontexts statt. Das liegt wohl vor allem an der Rolle Marburgs als Universitätsstadt und dem Selbstverständnis, das damit einhergeht. Autor*in zu sein, ist immer noch geprägt von der Vorstellung einer beobachtend nachdenklichen Person, die in ihrem Kämmerchen sitzt und die Welt beschreibt. Aber Lesungen und Autor*innenschaft können auch anders funktionieren. Ein Beispiel hierfür ist Chris Herz. 

Chris ist 36 Jahre alt und lebt seit drei Jahren in Marburg. Er blickt auf ein Leben voller Drogenkonsum/-handel, Gewalttätigkeit und Suizidversuche zurück. Im Rahmen seines Entzugs und eines therapeutischen Resozialisierungsprogramms, das er im Verlaufe seines Aufenthalts in der Betty-Ford Klinik in Bayern absolviert hatte, begann er zu schreiben – über sich und sein Leben. Heute ist er seit drei Jahren clean von harten Drogen, die ihm lange wie ein Teufel im Nacken saßen. 

Seine Geschichte beginnt damit, dass ihn andere Jugendliche in seiner Kindheit schwer gemobbt und verprügelt haben. Sie haben ihn krankenhausreif geschlagen, seinen Kopf gegen eine Hauswand gestoßen und Schlimmeres getan. Dadurch hat er, so wie er selbst sagt, schon früh die „Sprache der Gewalt“ kennengelernt und sich aus Selbstschutz mit Menschen abgegeben, die noch zwielichtiger waren, als die, die ihn verprügelten. Dazu kommt die Überforderung eines jungen Mannes, dessen Mutter an einem Tumor erkrankt und dessen Vater früh starb. So begann er mit 13 zu kiffen, mit 15 kam Speed und der Handel mit ähnlichen Substanzen hinzu. Mit 18 begann er mit dem Konsum von Heroin und Kokain, schon bald auch intravenös. Er wollte seine Gefühle abtöten und frei von moralischen Werten sein. Mit Anfang 20 ging er dann nach einer kurzen Odyssee, in der er es geschafft hatte, für geringe Zeit wieder clean zu werden, nach Berlin, um sein Abi nachzuholen. Hier ging es dann schneller bergab, als ihm lieb war und er fand sich schnell wieder in einer Umgebung von Menschen, denen eins am wichtigsten war: ballern (also der, meist intravenöse, Konsum von hauptsächlich Heroin und Kokain). Sein Abi hat er trotzdem hingekriegt. 

Während dieser Zeit entstand auch das meiste Material für Chris‘ Geschichten, die er nun seit über einem Jahr auf verschiedenen Marburger Bühnen präsentiert und vorliest. Bei seiner letzten Lesung am 27.03.2024 in der Cavete hat er drei Kurzgeschichten vorgestellt. Die Erste handelt von seinen gescheiterten Suizidversuchen, die er aufgrund einer Trennung und seiner darauffolgenden emotionalen Verfassung vorgenommen hat. Er schlitzte sich die Pulsadern auf und zog währenddessen noch sein letztes Koks, doch als er wieder aufwachte, lag er in einer Pfütze seines Blutes und beschwerte sich: 

„Nichtmals umbringen kann ich mich“

Daraufhin versuchte er, nachdem er eine Flasche Cognac getrunken hatte, von seinem Dach zu springen und scheiterte auch daran. Irritiert von der Unfähigkeit, sich sein eigenes Leben zu nehmen, begann ein Denkprozess in ihm. 

„Neukölln – dieses verdammte Babylon“ 

Um diese Gedanken zu betäuben, machte er sich auf den Weg durch Neukölln, seinem „verdammten Babylon“ und besorgte sich ein paar Benzos (Barbiturate), um endlich schlafen zu können. Die Geschichte endet mit der Einsicht, dass eine psychosomatische Behandlungsstation in Berlin ihm die Realität des Junkie-Daseins vor Augen führte und er durch das Zureden eines guten Freundes den Entschluss fasste, zu seiner Familie nach Kassel zurückzufahren und einen Entzug anzutreten. 

Eine andere Geschichte heißt Taserschlagstock 3000 und beschreibt eine Episode seines Lebens, in der er als Bodyguard/ Zuhälter mit zwei befreundeten Prostituierten zusammengewohnt hat und dafür zuständig war, Kunden der Damen, die sich nicht benehmen konnten, entsprechend zurechtzuweisen. Hier erfährt man, wie ihm die „Sprache der Gewalt“ als Mittel gedient hat. Eine Kurzgeschichte voller Gewalt, Sex und Drogenkonsum, die nur bedingt zu ertragen beziehungsweise überhaupt nachzuvollziehen ist, wenn man keine Erfahrungen innerhalb dieser „Szene“ hat. 

Seine dritte Geschichte handelt von seiner Musterung bei der Bundeswehr und wird von ihm liebevoll als „Wonderwall seiner Erzählungen“ dargestellt. Sie stellt die etwas andere Musterung eines Menschen dar, der weder Interesse an Autoritäten noch an dem dazugehörigen Respekt vor ihnen hat. Das gekoppelt mit seiner täglichen „Hand voll Drogen“ sorgte für einige Situationen, die allein schon aufgrund ihrer Absurdität einen fast humoristischen Charakter haben und etwas aus der zuvor aufgebauten Spannung herausnehmen. 

Chris liest und schreibt, so wie er spricht. Es ist verblüffend zu beobachten, wie man den Worten dieses Menschen folgt und sich jede auch noch so pervers extreme Situation fast schon bildlich vor den Augen der Zuschauenden abspielt. Seine Betonung und sein Lesefluss sind so exzentrisch wie das von ihm geführte Leben. Es ist manchmal harte Kost und nur schwer verdaulich, insbesondere wenn man selbst von Suizidgedanken oder einem Drogenproblem gepeinigt ist. Aber Chris betont immer wieder auch den therapeutischen Aspekt seiner Lesungen, nicht nur für ihn, sondern auch für die Menschen, die ihm zuhören. Menschen können ihm zuhören, um Erfahrungen zu erleben, die sie dann nicht mehr selbst machen müssen. Gerade in einer Stadt wie Marburg, in der der rekreationelle Konsum von chemischen Drogen und Alkohol oft durch den wöchentlichen Bibliotheksbesuch legitimiert wird – ein möglicher Augenöffner wo die Reise hingehen kann, wenn man zweimal falsch abbiegt. 

Im Interview mit PHILIPP spricht Chris darüber, dass ihm bewusst sei, dass er im Endeffekt nur Glück gehabt hatte und viele, die einen ähnlichen Weg wie er eingeschlagen haben, heute nicht mehr hier sind. Auch ist ihm bewusst, dass nicht viele in dieser Situation den finanziellen Rückhalt haben, die Betty-Ford Klinik zu besuchen. An dieser Stelle des Gesprächs plädiert er für eine intensivere Betreuung von Suchtkranken durch gesetzliche Krankenkassen, deren Involvierung seiner Meinung nach meist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sind. Er ist sehr dankbar, immer noch in engem Kontakt mit seiner Therapeutin zu sein, die, wie sie selbst sagt, niemals ganz verstehen wird, warum er die Dinge getan hat, die er getan hat. Sie ihn aber niemals als ehemaligen Drogensüchtigen angesehen hat, sondern als Chris Herz, den Menschen. Die Entscheidung zwischen dem Knast oder einer Überdosis hat er heute dagegen eingetauscht, Zeit mit seinem Neffen zu verbringen und wieder Skateboard zu fahren. Er will soziale Arbeit studieren und versuchen, Menschen zu helfen, die sich auf ähnlichen Pfaden befinden. Sein großes Ziel ist es, seine gesammelten Geschichten als Buch zu publizieren. Ein Titel existiert auch schon: 

„Wie ich immer wieder lachend in die Kreissäge sprang“

Auf die Frage, was er Menschen sagen würde, die in einer ähnlichen Situation wie er sind, entgegnet er: 

„Es gibt immer ein Weg raus. Die Sucht ist ein ziemlicher Bastard, aber es gibt viele Möglichkeiten, um sie zu bezwingen. Es fängt halt bei dir an und dem Wunsch zu leben.“


Chris Herz‘ nächste Lesung findet am 21.5. in der Cavete statt.

(Lektoriert von jok, nir und let.)

studiert Literaturvermittlung in den Medien. Redaktionsmitglied seit November 2023. Kommt aus Dortmund. Ist jetzt hier.

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