Die Schattenseiten der Stadt: Marburgs Angsträume – ein Kommentar

Die Schattenseiten der Stadt: Marburgs Angsträume – ein Kommentar

Bahnhofsbrücke Marburg
Bild: Rebecca Größ-Ahr

„Halte dich nachts bloß von den Lahntreppen fern“ – einer der ersten Ratschläge, die junge Frauen bei ihrem Umzug nach Marburg bekommen. Obwohl Marburg tendenziell als sicheres Pflaster gilt, bleibt es auch hier nicht aus, dass Meldungen über Übergriffe oder Tipps zum Vermeiden bestimmter Orte genauso zur Normalität geworden sind wie in jeder anderen Stadt. Es ist auch ein ungeschriebenes Gesetz, abends lieber ein Taxi zu nehmen und dass ab einer gewissen Uhrzeit am Wochenende an bestimmten Ballungspunkten mit betrunkenen und pöbelnden Gruppen gerechnet werden kann. 

Doch eins fällt auf: Immer, wenn eine Warnung ausgesprochen wird, immer wenn Gruppen sich pöbelnd versammeln, wird deutlich, dass es sich hier um einedeutliche Geschlechterteilung handelt. Frauen werden meist vor Männern gewarnt. Vor ihren eigenen Kommilitonen, die sich nach ein paar Bieren in ihren Rudeln von einer ganz anderen Seite zeigen. Vor 16-Jährigen, die mit einem Hinterherpfeifen ihren Kumpels zeigen wollen, wie kühn sie doch sind. Zusätzlich glänzt Marburg mit falscher Sicherheit – ständig bemüht, die Harmlosigkeit der eigenen Stadt zu unterstreichen. Häufig sind die Straßen eben gerade so dünn mit Personen besiedelt, dass Frauen sich nicht allein genug fühlen, um sich in Sicherheit zu wiegen, aber nicht in ausreichender Gesellschaft, um im Notfall Zeugen zur Hand zu haben. Der Schlüssel zwischen den Fingern wird schnell zu einem Accessoire, so selbstverständlich wie das Pfefferspray in der Tasche. Der betrunkene Typ, der dich und deine Freundinnen auf dem Heimweg von der Bar belästigt hat, wird eine Anekdote, die humoristisch nacherzählt wird, um zu vergessen, wie besorgniserregend die Begegnung doch war. „Nochmal Glück gehabt“, wird gedacht, „Ich hätte auch nicht allein laufen sollen.“ 

Bushaltestelle Marburg-Ockershausen als einzige Lichtquelle eines langen Straßenabschnitts. 
Bild: Rebecca Größ-Ahr

Kein Licht am Ende des Tunnels

Ein besonderes Problem: Die Dunkelheit. Die Abendbeleuchtung wird gerne spärlich eingesetzt, einen Weg an den Lahnwiesen entlang kann sich nach Einbruch der Dunkelheit nur leisten, wer im Besitz einer Taschenlampe ist. Denn auch im Cineplex in Marburg wurde die Werbung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gezeigt, die daran erinnern soll, die Heizung doch etwas später anzustellen, das Licht auszuschalten und kürzer zu duschen. Eine Energieeinsparung von 20 % hat sich die Bundesrepublik so erhofft. Unterstützung für dieses Vorhaben wurde in Marburg auch durch das Abschalten von Straßenlaternen geleistet. Schon im August 2022 kündigte die Stadtverwaltung an, dass die Beleuchtung des Erwin-Piscator-Hauses, der E-Kirche sowie des Rathauses kurzfristig abgestellt werden soll. Eine Entscheidung der Stadt, die besonders Frauen traf, deren Mobilitätsmöglichkeiten nun weiter eingeschränkt wurden. Nicht zwingend aufgrund einer steigenden Gefahr, sondern eher durch die frühe Sozialisation, die Eltern ihren Töchtern einprägen, die sie auch in Filmen vermittelt bekommen: Vermeide dunkle Wege.

Denn genau das unterscheidet die Geschlechter in ihrer Sorge. Statistisch betrachtet werden Männer wesentlich häufiger Opfer körperlicher Gewalt, Raubs oder Raubmords an öffentlichen Orten als Frauen. Tatsächlich ist dies sogar der Ort, an dem Männer am häufigsten Opfer von Gewalt werden – meist durch männliche Täter. Frauen hingegen erleben körperliche Gewalt überwiegend in ihrem eigenen Haushalt. Tötungen durch den (Ex-)Partner sind weltweit die häufigste unnatürliche Todesursache bei Frauen. Doch welche Sorgen haben Personen, wenn sie nachts ihren Weg in Richtung Bahnunterführung einschlagen? Männer haben demnach häufig Sorgen vor Raub und Frauen haben Angst vor sexuellem Übergriff durch den Fremden, vor dem sie schon seit ihrer frühen Kindheit gewarnt wurden. Diese Sorge vor dem Eintritt in einen Angstraum, sorgt bei Frauen nicht nur für eine konstante Anspannung, sondern auch für eine zusätzliche finanzielle Belastung: Mehr benötigte Mittel für Taxikosten, Selbstverteidigungskurse oder andere Sicherheitsvorkehrungen. 

Nach Anbruch der Dunkelheit, können Spaziergänger*innen an vielen Orten froh sein, wenn sie einer Laterne begegnen.
Bild: Rebecca Größ-Ahr


Stagnation seit den 90ern

Für die Entwicklung effektiver Maßnahmen zur Bekämpfung von Angsträumen ist eine detaillierte Analyse einzelner Orte unerlässlich. In den 1990er Jahren wurden in vielen deutschen Städten Umfragen zum Sicherheitsgefühl von Frauen in öffentlichen Räumen durchgeführt, so auch 1994 in Heidelberg. Dabei gaben 88 % der Frauen an, besonders wachsam zu sein, wenn sie alleine unterwegs sind, während 83 % bereit sind, Umwege in Kauf zu nehmen. Ganze 58 % der Befragten verzichten gänzlich darauf, auszugehen, wenn sie sich nicht absehen können, ob sie sicher nach Hause kommen. Darüber hinaus sind 48 % bereit, für eine Taxifahrt zu zahlen, um kein Risiko einzugehen, und 36 % meiden es, abends und nachts allein unterwegs zu sein.

Auch in Marburg wurde 1998 eine ähnliche umfassende Untersuchung zum Sicherheitsempfinden durchgeführt. Von 558 befragten Personen gaben knapp 80 % an, mindestens einen Angstraum in der Stadt und 37 % mindestens einen an der Philipps-Universität zu haben. Als unsicher empfundene Orte wurden Rad- und Fußwege entlang der Lahn, die Umgebung der Mensa, Unterführungen sowie Parkhäuser und -plätze genannt.

Das Projekt Einsicht – Marburg gegen Gewalt führte von 2014 bis 2017 fünf weitere Untersuchungen zum subjektiven Sicherheitsempfinden durch. Diese Studien befassten sich mit der erneuten Identifizierung von Angsträumen, den spezifischen Merkmalen dieser Orte und den allgemeinen Einflüssen auf die Kriminalitätsfurcht in Marburg. Daraufhin unterzeichnete die Stadt Marburg die „Marburger Erklärung gegen Gewalt“. Auf der Website sind die polizeilichen Kriminalstatistiken der Stadt von 2017 bis 2020 verfügbar, um zu zeigen, dass Marburg keine Stadt der Angsträume und Gewalt sein will. Die Stadt lobt sich auf ihrer Homepage mit den Worten: „Die Universitätsstadt Marburg ist für vieles bekannt. Sicherlich nicht dafür, eine Gewalthochburg zu sein.“

Den Schlüssel fest in der Hand

Im Rahmen dieses Artikels wurden die Follower*innen von PHILIPP auf Instagram nach ihrer Wahrnehmung von Angsträumen befragt und zusätzlich mit Studentinnen aus Marburg gesprochen. Es hat sich gezeigt, dass sich an der Wahrnehmung der bereits 1998 benannten Räume wenig verändert hat. Insbesondere Unterführungen werden aufgrund ihrer schlechten Beleuchtung und Abgeschiedenheit als bedrohlich empfunden. Auch die Parks, Wege entlang der Lahn und die Gassen in der Oberstadt werden als bedrohlich wahrgenommen und gemieden. Die häufigste Antwort in unserer Umfrage waren weiterhin die Mensa und die Lahntreppen, die in den letzten 10 Jahren bereits für große mediale Aufmerksamkeit gesorgt haben, aufgrund von Überfällen, Schlägereien und Messerattacken, wenn denn solche Vorfälle stattfanden. Fast 90 % der Antworten in der Instagram-Befragung stammten von weiblichen Personen.

In Gesprächen mit zwei Marburgerinnen wird nochmal deutlich, wie viel Raum und Umstände die Vermeidung bestimmter Räume in Anspruch nimmt.

Call me LiSA

Es wird deutlich, dass die Stadt Marburg mehr tun muss, um das Sicherheitsgefühl von Menschen zu verbessern, die von patriarchaler Gewalt bedroht sind. Nach wiederholten Angriffen und einem Raubüberfall mit sexuellen Übergriff auf eine Studentin im Jägertunnel im Jahr 2016 wurde 2018 dort das Kamerasystem LiSA eingeführt. Dieses System kann bei Bedarf aktiviert werden und macht sowohl Bild- als auch Tonaufnahmen, verbunden mit einer Notruffunktion. Ist dies ein gut gemeinter Beginn einer feministischen Sicherheitspolitik oder nur ein weiteres Gadget zur Profilierung der Stadt, um das Rating als sicheren Wohnraum zu festigen? 

Bild: Rebecca Größ-Ahr

Doch Gewalt im öffentlichen Raum darf nicht isoliert von Gewalt in privaten Räumen betrachtet werden, denn geschlechtsspezifische Gewalt kennt keine räumlichen Grenzen. Symptombekämpfung allein ist selten langfristig wirksam, da dabei oft auf klassistische und rassistische Stereotypisierung zurückgegriffen wird: Das wahllose Ausrufen von Sicherheitszonen in Marburg, in denen die Polizei auffällig häufig junge migrantische Männergruppen kontrolliert oder Wohnungslose von geschützten Plätzen vertreibt.

Abschließend gilt es für die Stadt Marburg, wie vielerorts, ganzheitliche Ansätze zu entwickeln, die nicht nur auf technologische Lösungen oder nette Worte setzen, sondern auch strukturelle und gesellschaftliche Veränderungen anstreben, um das Sicherheitsgefühl aller langfristig zu stärken.

Literaturempfelung
Feminist City: Wie Frauen die Stadt erleben
Leslie Kern, 2024

Fachliteratur
Raum Macht Geschlecht: Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen Raum
Renate Ruhne, 2011

Dieser Artikel konzentriert sich auf Frauen, da er auf Daten und Statistiken beruht, die ausschließlich binäre Kategorien berücksichtigen. Leider ist die verfügbare Datenlage für andere Gruppen, die von patriarchaler Unterdrückung betroffen sind, bisher sehr begrenzt. Obwohl sie in diesem Artikel nicht ausdrücklich genannt werden, sind Gruppen, die häufig Gewalt erfahren, wie queere Menschen und BiPOC, aufgrund ihrer äußeren Erscheinung potenzielle Opfer von Gewaltverbrechen in öffentlichen Räumen und teilen viele Sorgen rund um Gefahrenzonen.

(Lektoriert von jok und hab.)

Seit Anfang 2023 Mitglied der Redaktion und schreibt gerne über alles, was politisch, albern oder am besten beides ist.
Nichtraucherin und vegan, in beidem jedoch erfolglos.

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