Der Fall Serhat Ü. – Interview mit Prof. John Kannankulam und Marie Hoffmann

Anlässlich der Abschiebung Serhat Ü.s veranstaltete der AStA der Philipps-Universität Marburg am 10. Juli eine Podiumsdiskussion. PHILIPP hat mit zwei der Diskutant*innen gesprochen. Prof. Dr. John Kannankulam und Marie Hoffmann betrachten den Fall aus politikwissenschaftlicher Perspektive und erläutern, was er über die europäische Migrationspolitik verrät.
Am 10. Juli lud der AStA zum Podiumsgespräch ein. Was war der Hintergrund dieser Veranstaltung, bei der Sie Teil des Panels waren?
Marie Hoffmann: Serhat Ü., ein junger Kurde aus der Türkei, wurde Anfang Juni aus der Mitte der Marburger Stadtgesellschaft abgeschoben. Der gut integrierte junge Mann wollte eigentlich eine Ausbildung in Marburg anfangen. Mit diesem Podiumsgespräch setzte sich der AStA zum Ziel, diesen einen konkreten Fall aus Marburg in einen größeren Kontext von deutscher und europäischer Migrationspolitik zu stellen.
Welche Positionen ergreifen die Stadt Marburg und ihre Bürger*innen in dem Fall?
Marie Hoffmann: Serhat Ü. genießt einen großen ehrenamtlichen, sozial engagierten Unterstützungskreis insbesondere durch den Cölber Arbeitskreis Flüchtlinge. Sogar das Marburger Stadtparlament sprach sich einstimmig für das Bleiben von Serhat Ü. aus und auch der Kreistag setzte sich mehrheitlich gegen seine Abschiebung ein. Und dennoch: Serhat wurde Anfang Juni von den Behörden in die Türkei zurückgeschoben.
Serhat versucht, die ihm verhängte Sperre aufheben zu lassen und zurück nach Deutschland zu kommen. Wie wahrscheinlich ist ein Erfolg der Versuche, Serhat nach Marburg zurückzubringen, aus wissenschaftlicher Perspektive?
Marie Hoffmann: Jede Person, die aus Deutschland abgeschoben wird, bekommt erstmal eine Wiedereinreisesperre. Diese bewegt sich im Normalfall zwischen ein bis fünf Jahren. Serhats Anwälte versuchen zu erwirken, dass diese Einreisesperre entfristet wird. Dann wäre es ihm möglich über ein Ausbildungsvisum wieder nach Deutschland einzureisen, um hier seine Ausbildung zu beginnen. Es gilt aber auch zu beachten, dass die Türkei nun wirklich keine lupenreine Demokratie ist und Serhat dort als Kurde viel Diskriminierung erfährt. Eine sichere Einschätzung kann ich also weder für das Vorgehen der deutschen noch der türkischen Behörden abgeben.
John Kannankulam: Als kritische Wissenschaftler*innen verstehen wir beide Politik als konfliktgeleitet, Politik hat gesellschaftliche Auseinandersetzungen zur Grundlage. Es hat also einen Effekt auf die Politik, wenn sich die gesellschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung in der Stadt Marburg um die Frage dreht, ob die Abschiebung rückgängig gemacht werden kann. Aus der Perspektive Antonio Gramscis finden somit politische und juristische Entscheidungen nicht im luftleeren Raum statt, sondern sind geprägt von diesen Hegemoniebildungsprozessen im zivilgesellschaftlichen Raum.
Bei der Podiumsdiskussion wurde mehrmals gesagt, man könne einen Multiplikator hinter den Fall Serhat setzen. Seine Abschiebung ist kein Einzelfall. Hat sich die europäische Migrationspolitik in den letzten Jahren verändert?
John Kannankulam: Traditionellerweise ist die Europäisierung der Migrationspolitik seit den 1970er Jahren, nach dem Ende der sogenannten „Gastarbeiter*innenanwerbung“ gekennzeichnet durch eine Abwehrhaltung gegenüber unerwünschter Migration. Im Kontext des Schengen Prozesses in den 1980er Jahren ging es dann darum, den EU-Binnenmarkt zu öffnen, auch für Personenverkehr. Die repressive Kehrseite des Ganzen ist der Versuch, eine strikte Außenkontrolle an den Grenzen zu haben: Freiheit nach innen, Abschottung nach außen. Das später eingeführte Dublin-System verfestigte diese Strukturen.
Marie Hoffmann: In den 1990er-Jahren hat sich dann vor einem neoliberalen Hintergrund das Migrationsmanagement durchgesetzt. Damit hat sich der Gedanke entwickelt, dass Migration positiv sein kann, wenn sie für den heimischen Arbeitsmarkt von Nutzen ist. Es ist also ein System entstanden, in dem Grenzen als Filter fungieren, der als nützlich erachtete Migrant*innen durchlässt und den Rest abwehrt. Diese utilitaristische Strategie konnte sich auf einen sehr breiten gesellschaftlichen Konsens berufen. Seit 2015 ist die repressive Abschottungsseite von diesem Migrationsmanagement wieder erstarkt, wie wir an der aktuellen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) sehen. Ab 2026 werden demnach beschleunigte Asylverfahren mit eingeschränktem Rechtschutz an den EU-Außengrenzen stattfinden. Dabei sollen Geflüchtete in haftlagerähnlichen Zuständen untergebracht werden.
Welche Möglichkeiten gibt es, diesem Rechtsruck in der europäischen Migrationspolitik entgegenzuwirken?
John Kannankulam: In dem Moment, indem es utilitaristisch orientierte Öffnungen in der europäischen und deutschen Migrationspolitik gibt, passiert ja auch etwas in den Gesellschaften durch Arbeitsmigration. Um diesen Fakt der postmigrantischen Gesellschaft kommen auch migrationsfeindliche Akteure nicht herum. Je mehr Kontakt man miteinander hat, umso besser lassen sich Vorurteile abbauen. Man muss aber auch erkennen: obwohl Rechtsaußenparteien durchaus an Zulauf gewinnen, die Mehrheit der restlichen Gesellschaft wählt sie noch nicht.
Marie Hoffmann: Der Sommer der Migration 2015 wird auch ‚Sommer der Willkommenskultur‘ genannt. Über die Hälfte der Deutschen waren tatsächlich engagiert, Geflüchteten zu helfen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine konnten wir eine ähnliche Hilfsbereitschaft beobachten. Es gibt durchaus sehr große Teile der deutschen Gesellschaft, die sehr aufnahmebereit sind. Und das konnte man auch im Fall von Serhat Ü. wieder sehen. Die großen Fragen der Migrationspolitik werden auch im Alltagshandeln mitverhandelt – das gibt mir Hoffnung.
Aus wissenschaftlicher Perspektive könnte man dann von einer Verschiebung der hegemonialen Diskurse sprechen?
John Kannankulam: Rechten Kräften gelingt es zwar, bestimmte Deutungsbilder in die Welt zu setzen, die mit der Realität nichts zu tun haben, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung steht jedoch nicht Rechtsaußen. Nach dem Geheimtreffen in Potsdam, auf dem Deportationsfantasien ausgetauscht wurden, sind auf einmal aus dem Nichts zigtausend Menschen auf die Straße gegangen. Der sich hier äußernde Teil der Bevölkerung scheint mir darauf hinzuweisen, dass eine bis dahin weithin schweigende Mehrheit eben doch eine Mehrheit ist.
Marie Hoffmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am politikwissenschaftlichen Institut der Philipps-Universität Marburg. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist deutsche und europäische Asyl- und Migrationspolitik.
Prof. Dr. John Kannankulam ist seit 15 Jahren Professor für Politische Ökonomie der Europäischen Integration sowie der BRD an der Philipps-Universität Marburg. 2009-2013 leitete er gemeinsam mit Prof. Dr. Jens Wissel und Prof. Dr. Sonja Buckel das DFG-Forschungsprojekt Staatsprojekt Europa zu europäischen Auseinandersetzungen um Migrationspolitik, das seitdem als Arbeitszusammenhang weiterbesteht.
ist 26 Jahre alt und studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung. Macht sich auch außerhalb des Studiums viele Gedanken über die Welt und die Menschen, die sie beleben. Seit November Teil der Chefredaktion.