Lieben ohne Grenzen
Der gesellschaftliche Zukunftsplan: Ich finde den Mann für das Leben, heirate, gründe eine Familie und habe einen ordentlichen Beruf. Stopp! Wer hat diese Idee festgesetzt? Wer hat entschieden, diese würde sich als Einzige bewähren? Es gibt andere Lebenskonzepte, die vielleicht besser zu mir passen. Polyamorie zum Beispiel wirft das traditionelle Bild von Partnerschaften völlig auf den Kopf. PHILIPP traf zwei Menschen in Marburg, die polyamor leben und sprach mit der Diplomsoziologin Gesa Mayer. Sie forscht an der Universität in Hamburg.
Die Tragikkomödie „Jules et Jim“ handelt von der Dreiecksbeziehung, die mit dem Ideal der Zweierbeziehung konfrontiert ist und dadurch ständig auseinander zu fallen droht. Woody Allen gibt im Film „Vicky Christina Barcelona“ eine Dreierleidenschaft zum Besten, auch wenn die Liebe mit viel Schmerz und Eifersucht verbunden ist. Die Schriftstellerin, Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir (1908-1986) lebte in einer offenen Beziehung mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre (1905-1980). Des Öfteren tauchen offene oder alternative Beziehungsformen auf. Das Thema medial diskutiert oder zurückgeführt auf namenhafte Größen, reicht jedoch nicht aus, dem Phänomen gerecht zu werden.
Poly sein fühlt man
Aus wissenschaftlicher Sicht bedeutet Polyamorie Liebesbeziehungen mit mehr als nur einem Menschen zu führen. Die Grundannahme besagt, dass nichtmonogame Handlungen total okay sind, sofern sie mit dem Wissen und dem Einverständnis aller Beteiligten passieren. Dabei geht es um verbindliche, auf Langfristigkeit angelegte Beziehungen, in denen tatsächlich die Liebe eine große Rolle spielt und nicht nur das kurzzeitige, oberflächliche Verliebtsein oder bloß das sexuelle Abenteuer. Doch fernab von der Theorie kreisen meine Gedanken um die Praxis. Wie funktioniert das wirklich? Dazu treffe ich Mike*, 23 Jahre und Studentin. Wir haben uns zum Reden ein Plätzchen an der Lahn gesucht, unter einem Baum. Sie ist seit drei Jahren in einer festen Beziehung. Auf die polyamore Liebensart kam sie Ende letzten Jahres. Die Entscheidung dazu kam nicht von einem auf den anderen Tag. Sie bemerkte, dass sie noch Gefühle für andere Menschen entwickeln kann und diese möchte sie nicht aus irgendwelchen Zwängen unterdrücken.
Auch wenn Mikes Partner anfangs zögerte, läuft es inzwischen ziemlich gut. Neben der dreijährigen Beziehung hat sie noch zwei andere Partner, die vier untereinander lieben sich nicht. Das Verliebt sein in eine andere Person, die frische Energie und den gewonnenen Optimismus, können sich sogar auf die bestehende Beziehung auswirken. „Ich gönne meinem Partner das Glück, wenn er sich frisch verliebt“, beschrieb mir Mike. Eine kleine Gedankenpause – Hat sie keine Angst jetzt an zweite Stelle zu treten? Ich muss doch dann meinen Partner, meine Partnerin teilen? Das Schlüsselwort ist Vertrauen. „Das spielt eine ganz große Rolle“, fügt Mike hinzu. Wenn jemand zu der Zweierbeziehung hinzustößt, dann redet sie mit ihrem Beziehungsmenschen darüber. Kommunikation über Eifersucht, Verlustängste und andere Gefühlsbaustellen ist wichtig, wie es eigentlich in jeder Beziehung sein sollte. Mike kann nach dem knapp einem Jahr Polyamorie sagen, dass sich ihre Persönlichkeit dadurch sogar gestärkt hat. „Liebt dich dein Partner, deine Partnerin wirklich, dann weißt du, er oder sie kommt immer wieder zu dir zurück. Schließlich hat er*sie viele Möglichkeiten, andere Liebschaften zu wählen, doch er*sie bleibt bei dir.“ Das Konzept erscheint mir wie eine Entdeckung in die Gefühlswelt von Liebe: Menschen empfinden Eifersucht, weil sie Angst haben, den*die Anderen*e zu verlieren. Doch bedeuten zweite, dritte Beziehungen auch gleich Liebesverlust?
„Liebe und Zuneigung wachsen, je mehr Leute ich gut finde“
Menschen haben keine begrenzte Menge an Gefühlen. Die Wissenschaftlerin Gesa Mayer nennt den Mythos „Mangelsituation“: „Wenn das so ist, das echte, wahre Liebe nur für einen Menschen reicht, dann muss sich mein Partner für mich oder für die andere Person oder die anderen Personen entscheiden, und dann gehe ich ja vielleicht sogar ganz leer aus. Ich muss meinen Anteil an Liebe und Zuneigung verteidigen, das wäre die Konkurrenz. Gleichzeitig habe ich immer Angst, dass ich emotional betrogen, beraubt und ausgeplündert werde. Das wäre die Verlustangst. Polyamorie würde die Mangellogik aber einfach zurückweisen. Es ist nicht immer einfach, aber tendenziell würden meine Interviewpartner*innen, die poly leben, eher sagen ‚Naja, Liebe und Zuneigung – das sind gar keine begrenzten Ressourcen, sondern die wachsen anteilig, je mehr Leute ich gut finde. Meine Beziehungen haben jetzt nichts an Qualität eingebüßt, sondern werden im Gegenteil dadurch bereichert, dass ich mehr Leute in meinem Leben habe. Dass ich jetzt viel mehr über Gefühle in der Beziehung reflektiere und verhandle, dass ich verlässliche Netzwerke habe, dass ich mehr verschiedene Möglichkeiten habe, die Sachen zu machen, die mir Spaß machen usw.‘ Insofern wird niemandem was weggenommen und es gibt gar keinen Mangel. Es geht nicht um etwas, um das man konkurrieren müsste oder was man verlieren würde, sondern es ist ein Mehr statt Weniger.“
Worauf es ankommt erzählte mir Julia*: „Kommunikation, Transparenz, Vertrauen, Offenheit, liebender Umgang und Achtsamkeit“. Julia traf ich in einem Café. Sie hat seit zehn Jahren einen Beziehungsmenschen und lebt peux a peux nach dem polyamoren Liebeskonzept. Momentan führen die Beiden eine Fernbeziehung. Mit dem anderen Partner, der anderen Partnerin (keine konkrete Geschlechterbenennung) ist sie seit Dezember letzten Jahres zusammen und sie wohnen auch gemeinsam in einer WG. Die zwei Partner*innen lieben sich untereinander aber nicht.
Je mehr Leute ich habe, desto zeitaufwendiger ist es
Die Mangelsituation in polyamoren Beziehungen tritt dann wirklich auf, wenn die Zeit für beide Partner*innen fehlt. „Ich würde es cool finden, mehr Urlaubstage zu haben“, sagte Julia. „Mein Partner wollte mit mir für zwei Wochen in den Urlaub fahren, der andere Beziehungsmensch auch. Aber ich kann mir keine vier Wochen frei nehmen.“ Eine Fernbeziehung macht das Zeitproblem nicht einfacher. Alle zwei Wochen kommt er vorbei und sie verbringen Zeit miteinander. Währenddessen ist für den weiteren Beziehungsmenschen klar, dass er, sie die Zwei nicht stören darf, außer in absoluten Notfällen. Doch um die Person im Bunde trotzdem nicht zu vernachlässigen, gilt eine Abmachung: Jeden Morgen und bevor Julia ins Bett geht, kommt sie nochmal zehn Minuten zu der Person ins Zimmer.
Routinen, Exklusivität, Beziehungsabläufe und -formen gestalten sich eben für jeden Menschen und jede Beziehungen unterschiedlich. Die Abmachung erscheint mir sehr fair und für Jede*n erfüllend. Doch am Ende fallen wir doch auf das traditionelle Bild von monogamen Beziehungen zurück: Sexualität und Intimität nur mit einer Person, Familie mit einer Mama und einem Papa, eine eingetragene Lebenspartnerschaft, Ehe usw. Pärchen-Ratgeber, Lifestyle-Magazine, Filme mit ‚Boy meets Girl‘-Thema, Sendungen wie ‚Die perfekte Hochzeit‘ oder ‚4 Hochzeiten und eine Traumreise‘, unterstützen den romantischen Kitsch. Oft erscheinen monogame Beziehungen als die einzig denkbare und praktikable Möglichkeit. „Wir werden in eine mononormative Gesellschaft hinein sozialisiert“, behauptet Gesa Mayer, „Eltern, Schule, Bücher und Medien legen uns nahe, dass die Zweierbeziehung das Modell ist, obwohl wir in einer Gesellschaft leben, die sich als aufgeklärt und säkular begreifen würde.“
Julia hat schon immer gespürt, dass sie anders als das monogame Gesellschaftsideal fühlen kann und das ausleben möchte. Sie empfand den Wechsel von Monogamie in polyamoren Beziehungsstrukturen sehr schwierig. Es gab ein prägendes Ereignis, als sie anfing polyamor zu leben: Ihr damaliger Beziehungsmensch war zusammen mit eine anderen Person im Bett und sie haben gekuschelt. Doch die Tür war auf und jeder konnte rein und raus gehen. „Als ich sie gesehen habe, bin ich einfach komplett ausgeflippt. Ich habe nicht geglaubt, was ich gesehen habe, dass da gerade nichts läuft. Weil ich nicht vertraute, was ich gesehen habe, nicht vertraute, was mir gesagt wurde“, erzählte sie mir erregt. „Die offene Tür sollte eigentlich Vertrauen symbolisieren, aber aufgrund meiner damaligen monogamen Denkstrukturen, konnte ich es als solche nicht lesen.“ Ganze drei Jahre hatte sie für die Umgewöhnung gebraucht.
Mit der Anerkennung im Freundeskreis hatte Julia deutlich weniger Probleme. Mittlerweile kennen ihre Freunde*innen sie gar nicht mehr anders. Allerdings weiß ihre Mutter bis heute nichts davon. „Einer Person im Alter von 60 Jahren etwas absolut Neues, Alternatives, Unkonventionelles zu erklären, ist ziemlich schwer. Es war bereits schwierig, mit ihr Gender-Studis zu diskutieren. Am Ende hat sie die nur akzeptiert, weil es eine Theorie ist“, erklärte sie. Dieses Geheimnis wundert mich, da sie sehr offen über ihr Liebesleben plaudert. Auch Mikes Freunde entgegnen ihr verständnisvoll. Doch ignorante Kommentare wie man sei nicht liebensfähig, beziehungsunfähig oder sexsüchtig, sind leider nicht auszuschließen.
Interesse für Polyamorie wächst
Nach fast 40 Minuten sitzen Mike und ich immer noch im Schatten unter dem Baum auf der Wiese und sie fragt mich am Ende, wie es mit mir ist. Ich fühle mich überfordert, merke dass ich vielleicht zu wenig die üblichen Beziehungsformen hinterfrage. Was ist für einen gut, welche Herausforderung stellt sich zwischen dem, was ich als Individuum möchte und dem, was mir die Gesellschaft vorschreibt? Doch es fehlt nicht nur bei uns Menschen als Individuen die Reflexion, wie wir Beziehungen führen, was wir fühlen und wie wir den Alltag danach gestalten. Auch die Sozialwissenschaft und die angrenzenden Wissenschaften basieren noch oft auf den recht klassischen und normativen Partnerschaftsbegriff. „Salopp gesagt, beschäftigt sich die Forschung höchstens mal mit Patchwork- und Regenbogenfamilien“, sagte Gesa Mayer. Wenn sie Vorträge an Universitäten oder Bildungseinrichtungen hält, dann erkennt sie den hohen Informationsbedarf zu dem Thema. Vor allem junge Menschen zeigen großes Interesse. In den nächsten Jahren in der Forschung wird sich sicherlich noch etwas ändern.
Meine Zukunftspläne: Den gesellschaftlichen Druck, wie eine Beziehung aussehen soll, schalte ich aus, auch wenn mir ein harter Kampf bevorsteht. Oder ich mache es einfacher und höre nicht darauf, was Andere, Ideale, von mir erwarten und nehme meine Gefühle bewusst und sorgsam wahr. Ein Haus baue ich mir jetzt aus Bierdeckeln. Aus Alufolie bastel ich mir einen Ehering. Und mit ‘ner Katze bereite ich mich auf das Mutterdasein vor.
*Namen wurden auf Wunsch der Interviewpartner*innen geändert.
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