Spät, später, am Späti in Marburg
24/7, sozialer Treffpunkt, billig – das sind die typischen Assoziationen mit einem Spätverkauf. Anzutreffen sind sie in Großstädten, allen voran in Berlin. Inzwischen steckt ein regelrechter Kult dahinter. Aber hat er es auch nach Marburg geschafft? PHILIPP hat für euch nachgeforscht!
Freitag, 22 Uhr. Bis auf den REWE am Erlenring hat jeder Supermarkt, der das feierwütige Volk mit C2H5OH versorgen könnte, geschlossen. Doch zwischen den wenigen Restaurants und Bars leuchtet ein Schild im Dunkeln der Straße, das Erlösung verspricht. Denn gelbe Lettern, die ein „Open“ schreiben, weisen darauf hin, dass im Fireflight-Späti in der Biegenstraße die Pforten noch nicht zugegangen sind. Bestell- und Lieferservice und 23 Stunden geöffnet, so heißt es zumindest auf den Schildern. Aber auch ein erster Blick in den Laden offenbart eine übersichtliche Produktauswahl. Das Süßigkeitenregal zeigt ein ordentliches Sortiment: Von Snickers, Mr.Tom, Oreos über Salziges an Chips zu Bonbons ganz verschiedener Marken ist alles zu haben. Und auch für Marburgs Öko-Szene ist ein Vegan-Siegel neben dem Preisschild angebracht. In einer Sammelbüchse liegen Restangebote des Süßkrams, das mit schlappen 50 Cent nur so nach einem Verzehr schreit – das Durchschnittsangebot eines Spätis eben.
Glühwürmchen oder so ähnlich
„Hey!“, begrüßt mich ein Punk, dessen grüne Mähne fast so leuchtet wie die Hausnummer ‚37‘ bei Nacht. Er ist der Besitzer des Glühwürmchen-Kiosks und irgendwie passt er ins Konzept. Sein richtiger Name ist Richard Schmidke, aber alle nennen ihn Ritchy. Er übernahm den Laden von seinem Bruder. In Ritchys Späti-Kommune sind natürlich alle per Du. Liebend gerne lässt er sich ‚Chef‘ von seinen vier Mitarbeitern*innen nennen. Vor allem Sabrina, Studentin der Kunstgeschichte und Caro, angehende Lehrerin, sind treue Gefährtinnen. Fireflight heißt das Geschäft seit der Gründung 2009. Der Name steht für das Glühwürmchen, auch wenn das korrekt eigentlich ja firefly heißen müsste. Doch wie die Abwandlung schließlich zustande kam, weiß niemand mehr so genau. „Wir belassen es einfach bei einem Kunstwort“, meint Ritchy schmunzelnd. Zum Bedauern erfahre ich von ihm, dass der Bestell- und Lieferservice nicht mehr existiert. „Marburg war noch nicht bereit dazu“, erklärt er mir. Und die schöne, bequeme Vorstellung von 23 Stunden Ladenöffnung sei leider auch passé. So kann sich der Späti-Konsument momentan bis zwei Uhr und freitags sogar bis vier Uhr morgens beglücken. Sonntags ist geschlossen.
Freibier für alle!
Am Freitagabend wird der Späti am meisten ausgenutzt. Viele kaufen Bier und Wein ein und die Regale müssen schnell aufgefüllt werden. Einige Kunden kennt Ritchy bereits. So wie Daniel, 29 Jahre und Soziologie-Student. Sein Standard-Kauf: Bierchen und Zigarettenzeug. „Es ist nicht nur ein Laden. Es ist eine soziale Institution“, so der ‚Chef‘. Es kämen oft Bekannte, man grüße sich beim Namen. Für seine Späti-Freunde hat Ritchy auch ein besonderes Buch, worin sie Anregungen und Kommentare festhalten können. Es ist vollgekritzelt mit mehr oder minder realistischen Wünschen: „Freibier für alle“, verlangt eine Person, eine andere bittet um „…wieder mehr Senf!“. Eine ganz nette Idee hat auch dieser Gast:„Plan-B Katzenhunger Notfallset (auf jeden Fall Nassfutter!)“. Doch der Wunsch nach einer „Bedienung oben ohne“ konnten sich Einige bedauerlicherweise noch nicht erfüllen.
Eine kleine Besonderheit zeigt eine Vitrine neben der Kasse. Darin sind prächtige Exemplare von Pfeifen, die sorgsam in Reih und Glied vorgestellt werden. Zwischen Mate-Getränken, Energy-Zeug und Zigaretten ruht in der Ecke der Bierkühlschrank, aufwändig verziert mit Bierdeckeln und einem thronenden Desperados auf dem Dach – es ist wohl das Heiligtum des Spätis. Und das hat einen besonderen Grund, denn das Biersortiment ist aus den individuellen Kundenwünschen erlesen. Insgesamt über 80 verschiedene Marken sammeln sich im Kühlschrank an. Die Top-Drei: Sterni (Sternburger), Tegernseer und Astra. Der absolute Reinfall war Warsteiner. Über die Konsumenten wissen die Mitarbeiter eben bestens Bescheid, sodass der ein oder andere auch einmal im Jahr gekürt wird. Zusammen stimmen die Mitarbeiter ab, wer für sie der treueste Kunde ist. Als Gewinn winkt schließlich ein Gutschein mit zehn Prozent auf alles und das für ein ganzes Jahr. Zudem wird ihm ein Ehrenplatz in einem Fotorahmen über der Glasvitrine mit den Pfeifen gewidmet. Ritchy und seine Kollegen planen schon den nächsten Kunden des Jahres.
Nach gut zwei Stunden lautet mein persönliches Fazit: Fireflight hinterließ für mich einen ziemlich neuen Eindruck. Der Laden vertritt nicht ganz den Status eines Großstadtspätverkaufs, welcher rund um die Uhr geöffnet hat, meist chaotisch ist oder Sitzgelegenheiten vor der Tür anbietet. Über letzteres würden sich viele Leute freuen, weiß Ritchy genau. Doch wegen Lärmbeschwerden der Anwohner*innen sei das leider nicht möglich. Auch die Schilder über dem Schaufenster versprechen zunächst mehr. Doch was der*die Besucher*in in Ritchys Späti spürt, ist eine ganz einzigartige Atmosphäre. Wer hier ein und ausgeht, kennt sich meist, denn ein Plausch ist im Preis oft inklusive. Die Lässigkeit des Fireflight-Teams färbt sich auf die Gäste ab. Ab April oder Mai wollen sie sogar wieder sonntags öffnen! Ziemlich entspannt, denn bislang zählt die Stadt Marburg den Späti zu den Einzelhändlern, die nur mit Ausnahmen an Sonn- und Feiertagen geöffnet haben dürfen. Erst als Kiosk steht einem Geschäft mehr Freiheiten zu, so das Hessische Ladenöffnungsgesetz, kurz HLöG. Bleibt also noch ein bisschen zu tun, bis das Fireflight mit seinen Berliner Brüdern und Schwestern mitreden kann. Doch was schon jetzt bleibt ist der Status als unverzichtbares Kulturgut des Marburger Nachtlebens.
„Insgesamt über 80 verschiedene Marken sammeln sich im Kühlschrank an.“
Alleine das ist doch ein Besuch wert.
Danke. 🙂
haha, senft abgeben, das ist ja äußerst passend.