Marburg und der Lokomotivführer
Heute habe ich mir etwas vorgenommen, wofür ich von meinen Freund*innen nur ein verständnisloses Kopfschütteln erhalten habe: Ich fahre mit der Marburger Bimmelbahn.
Ihr habt sie vielleicht schon gesehen: Dieser in weiß und rot lackierte Zwei-Wagen Zug, mit der kleinen Lock vorne dran, der die Passant*innen in der Oberstadt oft zum Wahnsinn treibt. Denn das Teil passt kaum durch die Straßen, ist laut und naja …, sagen wir, wie es ist: Du kannst sogar bei Vollgas noch gemütlich an ihr vorbei laufen. Aber, wir kennen das ja: nur weil man etwas von außen verurteilt, muss das Innere ja nicht unbedingt schlecht sein. Also hab‘ ich mich mal da rein gesetzt.
13:15 Uhr am Sonntag: Es geht los. Schwermütig und ein bisschen wackelig setzt sich das dicke Ding am Fuße des Steinwegs in Bewegung Richtung Marktplatz. 54 Plätze stellen die zwei Waggons zur Verfügung, heute sind sie alle besetzt. Ich sitze im hintersten Abteil, direkt neben der Dame, die jede Fahrt begleitet und den Fahrgästen etwas über Marburg erzählt. So erfährt man von der Geschichte der Oberstadt, die bereits im Mittelalter ihre Anfänge findet, von dem sogenannten Loch, dem tieferen Bereich des Steinwegs, „durch das auch mal Abwasser und Dreck geleitet wurde“, von Frauen, die nur mit Blick durch die Erker ihre Neugier über das Straßengeschehen befriedigen durften und von denen man bei Fortzug sagte: „Sie ist weg vom Fenster“. Oder von dem ältesten noch erhaltenem Wohnhaus, das man auch das „Steinerne Haus“ nennt und das noch aus dem 14. Jahrhundert kommt. Die meisten werden es kennen als „das Haus, wo der Hinkelstein drin ist“. „Zur Sonne“ ist übrigens das älteste Gasthaus der Stadt und wusstet ihr, dass der kleine Mann vor der Schlucke Christian heißt und ein Kofferträger war?
Immer diese dicken Wagen
Die Dame, die das alles erzählt, ist Lydia Brunett. Sie führt gemeinsam mit ihrem Mann Herbert und ihrem Sohn Ingo den Personenbeförderungsbetrieb Brunett. Die Idee mit der Bimmelbahn kam der Familie bereits vor zehn Jahren, zu der Zeit waren die Zugmaschinen für Marburg allerdings noch nicht stark genug. „Stadtführungen, die mit solch einer Bahn gemacht wurden, waren schon immer sehr beliebt bei unseren Fahrgästen“, erzählt mir Lydia. Vor allem Familien mit Kindern, Kindergärten oder ältere Herrschaften seien begeistert von den Fahrten. So feierte bereits eine Dame ihren 92igsten Geburtstag in dem weiß-roten Gefährt. Die Bimmelbahn läuft auf einer privaten Investition, Zuschüsse gibt es keine.
Nach einer kurzen Pause am Marktplatz macht sich das schwere Gerät wieder auf den Weg. Diesmal geht’s über die Barfüßerstraße entlang Richtung Rotenberg. Lydia erzählt den Gästen dabei, wie die Mönche des ehemaligen Franziskaner Klosters stets barfuß durch die Straße liefen, wodurch man sie „die Barfüßer“ nannte und den heutigen Straßennamen prägten. Als ich ein kleines Kind den Zug überholen sehe, merke ich wieder, wie langsam wir uns tatsächlich voran bewegen. Und von draußen ernten wir viele missbilligende Blicke. „Ja, die Leute schütteln den Kopf oder murmeln was vor sich hin, wenn wir an ihnen vorbeifahren“, sagt Herbert, der heutige Lokführer. Aber direkte Beschwerden hätten sie noch keine bekommen. Da waren die Reaktionen eher positiv. Tatsächlich kennen sie selber das Problem, wenn dicke Wagen meinen, die Straßen blockieren zu können, als wären sie allein auf der Welt. „Die Paketdienste nerven oft in der Oberstadt. Es sind dann auch immer die gleichen Fahrer, die stets an der gleichen und am liebsten auch noch engsten Stelle stehen bleiben.“ Ja, das kommt mir bekannt vor.
Der Turm krümmt sich vor Scham
Inzwischen tuckert die Bimmelbahn die Calvinstraße zum Schloss hinauf. Die Kurven sind immer ganz besonders spannend. Ich ignoriere also lieber das etwas gruselig klingende Quietschen und höre Lydia zu, die gerade von dem schiefen Turm der Lutherischen Pfarrkirche berichtet. Obwohl man im Mittelalter nämlich durchaus Türme etwas schief gen Westen baute, ist dieser durch feuchtes Bauholz doch etwas zu schief geraten. Ich habe ja gehört, dass die Scham des Baumeisters so groß gewesen war, dass er sich in dem Turm erhängt hat. Aber das sind ja alles nur Gerüchte. Wikipedia behauptet übrigens eine ganz andere Geschichte. Lydia erzählt uns jedenfalls noch den Mythos, dass der Turm erst wieder gerade werde, wenn eine Medizinstudentin als Jungfrau nach Marburg kommt und es als diese auch wieder verlässt. Wir werden uns also wohl noch sehr, sehr lange an dem schiefen Turm beglücken können. Oder kann mich jemand anders belehren?
Gegen 15 Uhr ist die Rundtour zurück am Steinweg schließlich beendet. Als ich aussteige und mich von Lydia verabschiede, merke ich, dass es mir tatsächlich gefallen hat. Ich freue mich zwar, dass ich mich endlich wieder schneller als 5 km/h bewege, doch ich bin durchaus positiv überrascht. Durch die Fahrt habe ich viel Neues erfahren, vor allem von der Geschichte Marburgs. Vielleicht ist das dicke Ding in den Straßen der Oberstadt etwas nervig, doch für viele ist es doch ein Gewinn. „Es ist einfach wichtig für uns, eine Verbindung von der E-Kirche hinauf zum Schloss zu schaffen, gerade für Leute, die den Weg hier hoch normalerweise nicht mehr schaffen.“, so Lydia. Und sind wir mal ehrlich: So eine Bimmelbahn passt doch irgendwie zur süßen, alten Marburg-Kulisse. Oder nicht?
PHILIPP-Gründerin und Chefredakteurin von 2014 - 2017.