TikTok killed the Videostar? – Prof. Dr. Henry Keazor zu Besuch in der Kunstgeschichte

TikTok killed the Videostar? – Prof. Dr. Henry Keazor zu Besuch in der Kunstgeschichte

Fotos: Georgii Astakhov

Der in kunstgeschichtlichen Kreisen bekannte Prof. Dr. Henry Keazor hielt am 31.01.2024 einen Gastvortrag zum Thema Musikvideo im Kunstinstitut der Uni Marburg. Unsere Redakteurin Elisa war dabei. Sie schildert Eindrücke von der Veranstaltung und fragt sich, wann sie das letzte Mal ein Musikvideo gesehen hat – und was Plattformen wie TikTok für diese Form der Kunst bedeuten.

„Wann hast du eigentlich das letzte Mal ein Musikvideo gesehen?“, frage ich meine Mitbewohnerin. „Keine Ahnung, das ist auf jeden Fall schon lange her“, sagt sie und schaut mich nachdenklich an. Ich ziehe meine Schuhe an, mache mich auf den Weg durch das dunkle Marburg und stelle mir diese Frage unterwegs immer wieder selbst. Ich kann sie nicht beantworten. Ich glaube, das Musikvideo ist tot. 

Der Kunstgeschichtshörsaal war selten so voll wie heute. Rund sechzig Leute sitzen und stehen im Raum. Der Professor Henry Keazor, der heute seinen Gastvortrag hält, hat in der Kunstgeschichte eine gewisse Prominenz. „Ich freue mich, ich bin ein großer Fan von Herrn Keazor“, höre ich eine Kommilitonin sagen. Keazor forscht hauptsächlich zu französischer und italienischer Barockmalerei, den Cinquecento-Illustrationen der Entdeckung Amerikas, zeitgenössischer Architektur und der Kunst in der Literatur und den Medien. Durch seine Expertise zum Thema (Kunst-)Fälschung ist Keazor, besonders seit dem Fall Wolfgang Beltracchi, auch immer wieder gerngesehener Interviewpartner in filmischen Dokumentationen.

Sein weiterer Forschungsschwerpunkt – das Musikvideo – führt ihn heute nach Marburg. In das Kunstinstitut passt seine Vorlesung zum Thema „Musikvideo und Kunstgeschichte: Eine Bestandsaufnahme“ wahrscheinlich so gut, wie in kaum ein anderes in Deutschland. Das Medium des Musikvideos liefert nämlich vor allem für die Lehrenden und Studierenden des Studiengangs Kunst, Musik und Medien, den die Philipps-Universität anbietet, die perfekte Schnittstelle für eine bereichsübergreifende Diskussion.

Sledgehammer auf Heavy Rotation

„Es ist keineswegs selbstverständlich, dass ich heute über dieses Thema spreche, vor allem in einem solchen Institut“, beginnt Keazor seinen Vortrag. Das Musikvideo sei kein übliches Thema in der Kunstgeschichte. Vor einigen Jahrzehnten wäre es wahrscheinlich noch undenkbar gewesen, diesem Thema einen solchen Raum zu geben, so Keazor. Erst seit 2003 nehme die Kunstgeschichte das Musikvideo durch Chris Cunningham, Spike Jonze, sowie Björk und Michel Gondry als ernsthaften Gegenstand der Wissenschaft wahr. 

Diesen Durchbruch des Musikvideos haben Musiker*innen, wie beispielsweise Michael Jackson oder Peter Gabriel vorbereitet. Aber auch Filmemacher*innen wie Alice Guy, die bereits 1916 mit „Anna qu’est-ce que t‘attends“ die formalen Kriterien auch noch heute üblicher Musikvideos bediente, wie beispielsweise das Synchronisieren der Lippen, haben wesentlich zur Erfolgsgeschichte des Mediums beigetragen. Gabriels „Sledgehammer“ hebt Keazor dabei besonders hervor. Ein solch detailreiches Musikvideo konnte seinerzeit herausstechen. Die vielen Einzelheiten, die oft erst nach mehrmaligem Ansehen erschlossen werden können, erhöhten die Chance auf die „Heavy Rotation“ des Musikvideosenders MTV zu gelangen.

Mit der Zeit habe sich aber auch das Umfeld für die Videos auf MTV geändert, so Keazor. 1985 baut der Sender erstmals sogenannte „Art Breaks“ ein, damit der Sendeablauf abwechslungsreicher gestaltet wird. Vorläufer dafür waren laut Keazor britische „TV Interruptions“, die das Ziel verfolgten, die Kunst in das heimische Fernsehgerät zu bringen. Als 2004 die Digitalisierung voranschreitet, befürchtet man den angehenden Tod des Musikvideos, so Keazor. Das Musikvideo wird museal und damit auch zum Gegenstand der Kunstgeschichte. Aber ist die Geschichte des Musikvideos abgeschlossen, oder anders: Did Internet kill the Radio Star?

Richard Wagner, der Vater des Musikvideos

Erst einmal gilt es für Keazor zu klären, was als Anfang des Musikvideos betrachtet werden kann. Einige Wissenschaftler*innen sehen die Anfänge erst ab dem Start des Musikfernsehsenders MTV und dem damit beginnenden Massenkonsum des Mediums 1981. Andere betrachten, so Keazor, schon Richard Wagner, wegen des von ihm geprägten Gesamtkunstwerks, als Vater des Musikvideos. Die Geschichte des Musikvideos ist laut Keazor eine Geschichte, die immer wieder abbricht und neu beginnt. Fest stehe aber, insbesondere die Rezeption und Adaption von Kunst im Musikvideo sei Teil der Kunstgeschichte. Der Rückblick auf historische Kunst lege neue Züge des Musikvideos frei. 

Schreibt das Musikvideo Kunstgeschichte (um)?

Keazor stellt die Frage, wieso das Musikvideo überhaupt selbst zur Kunst werden will. Ein Grund, abseits der „Heavy Rotation“, sei sicherlich die schnellere Publikumsverständigung. Es ginge dabei aber außerdem um den eigenen Anspruch der Künstler*innen selbst nicht nur Kunst zu schaffen, sondern Kunst zu werden. Manchmal sei deren Intention aber auch einfach das ironische Augenzwinkern, so Keazor.

Er erklärt, dass sich bei der Rezeption von Kunstwerken in Musikvideos ganze Communities bilden, die es sich, beispielsweise auf Flickr oder Instagram, zur Aufgabe machen, kunsthistorische Bezüge zu den Musikvideos herzustellen – so auch bei dem Clip zu „70 Million“ von Hold Your Horses!. Einige Musiker*innen wollen die Kunst aber nicht nur rezipieren, sondern diese außerdem weiterdenken, wie laut Keazor das Video zu „Can’t Stop“ der Red Hot Chili Peppers zeigt, die sich darin unter anderem auf Erwin Wurms „One Minute Sculptures“ beziehen.

Einen besonderen Fokus legt Keazor auf das Video zu „Mona Lisa Smile“ von will.i.am und Nicole Scherzinger. Das Musikvideo ist im Louvre angesiedelt und weist auch auf den Race-Diskurs hin. People of Color besetzen hier verschiedene Rollen in Kunstwerken, die zuvor von weißen Menschen eingenommen waren. Musikalisch zitiert will.i.am „Manhã de Carneval“ aus dem brasilianischen Film Orfeu Negro (1959). In diesem Stück wird die Geschichte von Orpheus und Eurydike in die Gegenwart transponiert und die Schauspielrollen werden, wie in will.i.ams Musikclip, von People of Color besetzt. In diesem Musikvideo werden People of Color auch als Rezipienten der Kunstwerke inszeniert. 

„Todgesagte leben länger“ – Keazor über das Musikvideo

Mit seiner These, dass das Musikvideo offensichtlich nicht 2004 gestorben sei, gibt Keazor Fragen aus dem Plenum Raum zur Diskussion. Nachdem sich die meisten Professor*innen aus Kunstgeschichte, Musik- und Medienwissenschaft angeregt zu den Analogien zwischen der Aufgabe der Renaissance als Rückgriff auf die Antike und der des Musikvideos als Rückgriff auf die Kunstgeschichte äußern und sie sich zu den potentiellen Anknüpfungspunkten des Musikvideos in der Medienkunst und der Rolle der Distributionskanäle für das Musikvideo austauschen, meldet sich eine Studentin zu Wort. Sie habe das Gefühl, die Generation Z schaue keine Musikvideos mehr. „Ob das noch jemand schaut? Das müssen Sie mir sagen“, entgegnet Keazor.

Ist das Musikvideo tot?

Ich schaue keine Musikvideos mehr – für mich sind sie gestorben. Gestorben und reinkarniert. Es gab eine Phase in der ich täglich Musikvideos geschaut habe. Das war dieselbe, in der man Musik illegal im Internet heruntergeladen hat, unvollständig und mit Störgeräuschen, weil Deezer und Spotify gerade erst gegründet wurden. Wenn ich einen ganzen Song auf Abruf hören wollte und keine CD davon hatte, musste ich ihn auf YouTube suchen. 

Jetzt gibt es Streaming, Instagram und TikTok. Mit diesen Medien hat sich mein Musikvideokonsum verändert. Ich schaue auf YouTubeVevo oder Clipfish keine dreiteiligen Musikvideos mehr à sechs Minuten. Ich schaue maximal sechzig Sekunden Snippets auf TikTok, als Instagram-Reel oder bei YouTube-Shorts. Vertikale Kurzvideos, prägnantes Storytelling. Wenn sie gut sind, funktionieren sie ab der ersten Sekunde. Nicht nur als Werbemedium für „richtige“ Musikvideos, sondern auch als eigenständiges Medium sehe ich in diesen Formaten Potential, das Musikvideo neu zu erfinden. Ich glaube nicht an „TikTok killed the (Music)Videostar“.

Trotz, oder gerade durch ihre Ökonomie bieten diese Kurzvideos den Darsteller*innen Möglichkeiten, neue Perspektiven zum Ausdruck ihrer Kreativität zu finden. Die mediale und künstlerische Entwicklung befruchtet sich schließlich schon seit ihren Anfängen gegenseitig. Ohne die Erfindung des Papiers hätte es keine massenhaften Drucke und keine Medienrevolution gegeben. Dadurch wäre ein Großteil der Kunst, die wir heute betrachten nie entstanden. Wer weiß also, welches Potential TikTok noch für den künstlerischen Ausdruck mit sich bringt. Vielleicht werden wir in 25 Jahren alle kuratierte Ausstellungen zu TikTok-Musikvideos besuchen.

(Lektoriert von hab und let.)

studiert im Bachelor „Kunst, Musik und Medien“ und ist seit Anfang 2024 Redaktionsmitglied.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Wordpress Social Share Plugin powered by Ultimatelysocial
Instagram
Twitter