Was bedeutet der Literatur-Nobelpreis 2016 für die Wissenschaft, Prof. Schmaus?
Medizin, Physik, Chemie, Literatur, Frieden, Wirtschaft – für besondere Erkenntnisse auf diesen wichtigen Gebieten werden alljährlich die Nobelpreise verliehen. Für Fachfremde ist es aber oft schwierig, zu verstehen, wofür die Preisträger:innen eigentlich ausgezeichnet werden. PHILIPP hat mit Prof. Dr. Marion Schmaus über die literarischen Qualitäten Bob Dylans gesprochen.
PHILIPP: Was war Ihre erste Reaktion, als sie gehört haben, dass Bob Dylan den Literaturnobelpreis bekommt?
Prof. Dr. Marion Schmaus: Ambivalent. Einerseits sehr gut und wichtig, dass jemand als Singer/Songwriter den Nobelpreis bekommt und auf diese lange Tradition der Verbindung von Musik und Sprache eingegangen wird. Seit der Antike – im Grunde seit der Erfindung der Literatur – ist das eine sehr wichtige Verbindung. Außerdem finde ich es gut, dass die Popkultur mit diesem Preis geehrt wird.
Andererseits hatte ich den Eindruck, dass es eine nostalgische Vergabe gewesen ist. Bob Dylan war in den 60er/70er Jahren die Stimme einer Generation. Wenn man tatsächlich ehren will, dass jemand im Pop die Stimme einer Generation ist, müsste er heute wohl an Beyoncé vergeben werden. So weit ist der Literaturnobelpreis jedoch noch nicht. Der Literaturnobelpreis ist häufig ein nostalgischer Preis. Es wird etwas geehrt, das vor 30 bis 40 Jahren wichtig gewesen ist. Er ist natürlich auch ein politischer Preis und sollte es auch sein. Die Ambivalenz zieht sich weiter in Hinblick darauf, wie Bob Dylan mit der Preisvergabe umgegangen ist. Ich denke, das muss nicht sein, dass man noch eine Show darum macht, ob man ihn annimmt, wann man nach Stockholm fährt… Das ist schade.
Es gab auch viele Stimmen, die gesagt haben: Endlich mal ein Nobelpreisträger, dessen Namen man nicht googeln muss. Könnte es vielleicht auch ein Lanzenbruch sein, dass jemand so populäres und eben auch kein Literat im klassischen Sinne den Nobelpreis bekommt?
Doch, das finde ich gut. Das Nobelpreiskomitee hat in den letzten Jahren daran gearbeitet, den Begriff der Literatur zu erweitern und z.B. mit Svetlana Alexievich auch dokumentarische Formen des Schreibens aufgenommen. Und auch – das finde ich ganz wichtig – dass die Lyrics mit aufgenommen werden, die Verbindung von Literatur und Musik. Das finde ich einen ganz großen Pluspunkt. Er ist eben auch derjenige Kandidat der Sparte Singer/Songwriter, dem man den Preis verleihen muss, weil eben die Qualität seiner Texte und die seiner Musik genau das hergibt.
Wie kann man das Werk Bob Dylans literarisch charakterisieren? Und wie setzt man es in Relation zu anderen Literaten? Seine Texte wurden beispielsweise mit denen von Homer verglichen…
Ich denke, man kann ihn ganz gut in Verbindung zu Homer, Ovid und Shakespeare setzen. Das sind ja auch die Autoren, die er in seinen Texten zitiert. Da erfüllt er schon einmal ein Kriterium, das wir eigentlich für hochkulturelle Texte auch annehmen würden: Sie arbeiten intertextuell und bekommen dadurch auch eine gewisse Form der Selbstreflexion. In der Germanistik hat Heinrich Detering zwei Studien zu Bob Dylan geschrieben. Er vertritt genau diese These: auch unter den Kriterien der Hochkultur ist das wirklich gute Literatur. Und ich glaube, er hat Recht. Der Vergleich zu Homer ist wirklich nicht so unpassend, weil Bob Dylan mit Texten arbeitet, die aus der „Volkskultur“ beziehungsweise der Popkultur kommen. Es sind häufig Texte ohne Autorschaft. Es gibt beispielsweise aus seiner christlichen Phase einen Song namens „Forever Young“, in dem er alte irische Segenswünsche verarbeitet und kaum variiert. Im Grunde versucht er genau wie die Romantiker hier in Marburg so etwas wie eine neue Mythologie zu erschaffen. Also alte Texte in Hinblick auf bestimmte historische Situationen zu aktualisieren und zu zitieren. Das ist etwas, das Bob Dylan macht. Und insofern kann man ihn in den großen Kanon der Literatur einreihen.
Vergleichend wäre in der deutschen Literatur auf Bertolt Brecht zu verweisen. Er hat zu den meisten seiner Texte auch Musik gemacht, einen Großteil seiner Gedichte selbst mit Gitarre begleitet. Allerdings war er kein so guter Musiker wie Bob Dylan. Vielleicht war er ein besserer Lyriker, aber das Verfahren war ganz ähnlich. Was man bei Bob Dylan ebenso häufig wie bei Brecht findet, ist ein ‚Bibelton‘, z.B. bei „Blowin’ in the Wind“, insgesamt viele Bibel-Zitate, aber auch den Sprachduktus der Bibel. Das ist ein gangbarer Weg, um wirklich populär zu werden. Also auch an Hörer ranzukommen, an denen die sogenannte Hochkultur normalerweise vorbeigeht. Das „einfache Volk“, die jetzt auch im Wahlkampf viel besprochenen Vergessenen, sind wohl auch die, die Bob Dylan in seinen Liedern mit adressiert hat.
Bob Dylan ist also von Literaten beeinflusst. Aber gibt es heute in der neueren Literatur einen Austausch zwischen Popkultur und Literaten, die sich auf die Musiker beziehen?
Ja, diesen Austausch gibt es. In der Popliteratur hier in Deutschland seit den 1990er Jahren, beispielsweise in den Romanen von Thomas Meinecke oder international denen von Nick Hornby. Vielleicht ist Bob Dylan da ein Türöffner gewesen, weil er von der Seite der Popmusik aus den Austausch mit der Literatur angefangen hat. Umgekehrt gab es da Allen Ginsberg und viele andere. Der Weg zurück von der Literatur zur Popmusik ist über Dylan leichter geworden. Von einer ganz starken Dylan-Rezeption im Speziellen weiß ich leider nichts. Da müssten Sie mal in die Bücher von Heinrich Detering schauen.
Was spräche denn gegen eine Verleihung des Nobelpreises an Bob Dylan?
Da fragen Sie vermutlich die falsche Person. Für mich erfüllt Bob Dylan die Qualitätskriterien dessen, was Literatur ausmacht. Ich finde Literatur wird da spannend, wo sie wirklich eine Breitenwirkung hat. Das unterstreicht dieser Nobelpreis an Bob Dylan. Manchmal ist es ja tatsächlich so, dass man die Leute erst googeln muss. Hier hat man jemanden, der mehrere Generationen geprägt und ihnen eine Stimme gegeben hat.
Könnte die Verleihung des Preises an Dylan von anderen Kandidaten als Ungerechtigkeit empfunden werden?
Das kann gut sein. Er hat schon alle Preise bekommen und es gibt auch genug Musikpreise. Die Literatur hat heutzutage einen schweren Stand, sodass sicher einige gedacht haben: Der muss jetzt nicht auch noch den Literaturnobelpreis bekommen… Ich denke der Buchhandel wird sich geärgert haben, weil der Literaturnobelpreis eines der großen Zugpferde der Buchmessen und des Weihnachtsgeschäfts ist. Das ist weitgehend ausgefallen. Der Germanist Heinrich Detering hat sich vielleicht gefreut, weil seine Monographien sich jetzt besser verkaufen. Auch Bob Dylans Lyrics sind schon als Buch publiziert ebenso wie seine Zeichnungen. Allerdings dürfte der Buchhandel ein besseres Geschäft machen, wenn ein Autor im klassischen Sinne den Literaturnobelpreis erhält.
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