Was bedeutet der Physik-Nobelpreis 2015 für die Wissenschaft, Prof. Schrimpf?

Was bedeutet der Physik-Nobelpreis 2015 für die Wissenschaft, Prof. Schrimpf?

Medizin, Physik, Chemie, Literatur, Frieden, Wirtschaft – für besondere Erkenntnisse auf diesen wichtigen Gebieten werden alljährlich die Nobelpreise verliehen. Für Fachfremde ist es aber oftmals schwierig, zu verstehen, wofür die Preisträger*innen eigentlich ausgezeichnet werden. Warum der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur B. McDonald mit dem diesjährigen Nobelpreis der Physik prämiert wurden, hat Prof. Dr. Andreas Schrimpf, Leiter der AG Astronomiegeschichte und beobachtete Astronomie, für PHILIPP erläutert.

PHILIPP: Warum, beziehungsweise an wen wurde der diesjährige Nobelpreis in Physik verliehen?

Prof. Dr. Schrimpf: Dieses Jahr haben zwei Elementarteilchenphysiker den Nobelpreis bekommen, die sich mit Neutrinos beschäftigt haben. Neutrinos sind Elementarteilchen, die 1930 postuliert wurden. Kajita und McDonald sind ausgezeichnet worden, weil sie festgestellt haben, dass es verschiedene Familien von Neutrinos gibt und diese sich ineinander umwandeln. Diese Umwandlung der Neutrinos steht im Widerspruch zum gängigen Modell der Elementarteilchen, dem sogenannten Standardmodell, eine Theorie, die durch Experimente vielfach belegt ist. Überall dort, wo es Abweichungen von diesem Standardmodell gibt, fängt man natürlich an, an Erweiterungen und neuen Ideen zu basteln. Die Messungen der Physiker haben gezeigt, dass das bisherige Modell nicht vollständig ist und dass man dieses erweitern muss.

Man ist lange davon ausgegangen, dass Neutrinos keine Masse besitzen. Hat man diese Theorie im Zuge der Forschungen widerlegt?

Ja, eine Sache finde ich witzig bei diesen Neutrinos: Man muss die Nobelpreise für die Neutrinos mal gemeinsam diskutieren, es hat nämlich bisher vier Nobelpreise dafür gegeben. Zu den jungen Physikern habe ich in einer Vorlesung gesagt, wenn sie einen Nobelpreis erhalten wollen, sollen sie Neutrinos forschen. Die Chance einen zu bekommen, ist extrem hoch (lacht). Wolfgang Pauli, einer der großen deutschen Physiker, ist als erstes von der Existenz der Neutrinos ausgegangen, belegt wurden seine Forschungsergebnisse allerdings erst mehr als zwanzig Jahre später. Bei seinen Messungen kam heraus, dass diese Teilchen elektrisch neutral sind, außerdem weder Ladung noch Masse besitzen. Lederman, Schwartz und Steinberger experimentierten ebenfalls mit Neutrinos. Sie haben entdeckt, dass es verschiedene Neutrino-Familien gibt, nämlich das Myon-Neutrino und das Elektron-Neutrino. Mit dieser Erkenntnis hat man die Grundlagen für das Standardmodell gelegt. Mit der Entdeckung der dritten Neutrino-Familie, den Tau-Neutrinos war das Standardmodell vervollständigt. Der dritte Nobelpreis ist zu einer Zeit vergeben worden, da hatte man den vierten quasi schon in der Hand. Dieser wurde für die Entdeckung der Neutrinos im Universum, auch kosmische Neutrinos genannt, vergeben. Japanische Forscher haben Neutrinos von einer Supernovaexplosion in der Magellanschen Wolke gemessen. Die Magellansche Wolke ist eine Nachbargalaxie, welche man auf der Südhalbkugel sehen kann, also ein Sternhaufen, wenn man es einfach halten will, den man bei sternklarer Nacht beobachten kann. Ende der Neunziger Jahre hat man mit Hilfe einer chemischen Umwandlung Neutrinos von der Sonne nachgewiesen. Mit diesen Messungen stellt man die Theorie der Sonne in Frage, da theoretische Annahmen und experiementelle Ergebnisse nicht zu vereinbaren sind. Das sogenannte „Sonnenneutrino-Rätsel“ beschreibt diese Diskrepanz. Das Team um McDonald konnte mit einer anderen Methode eine Sorte von Neutrinos getrennt, aber auch alle drei Sorten zusammen messen. 2001/2002 hat man die Umwandlung der Neutrinos bewiesen, was zur Erklärung des „Sonnenneutrino-Rätsels“ beitrug.

Inwieweit hat der Japaner Takaaki Kajita dabei eine Rolle gespielt?

In Japan hat man mit einem Experiment, welches man in einer Mine durchgeführt hat, mit dem Kamiokande-Detektor gearbeitet. Darin ist hochreines Wasser enthalten, in dem Wasserreservoir der Mine hat man die Hälfte des Lichtes erst nach etwa siebzig Metern verloren, das Wasser ist also kristallklar. Durch die Reaktion der Neutrinos mit dem Wasser lassen sich Blitze nachweisen. Die optimierte Version des Detektors heißt Super-Kamiokande. Nun hat man herausgefunden, dass die Höhenstrahlung, die auf unsere Atmosphäre trifft, in der obersten Schicht durch Reaktionen atmosphärische Neutrinos erzeugt. Gleichzeitig kommt die Höhentrahlung auch von unten durch Neuseeland, der Detektor kann also sehen, ob die Neutrinos von oben oder von unten kommen, sie hinterlassen sozusagen eine „Lichtspur“. Die Reaktion, die stattfindet, lautet folgtendermaßen: Das Neutrino wandelt sich in ein Myon um, das Myon hinterlässt eine Reaktionsspur und diese Spur hat eine Richtung. Daher kann man auch differenzieren, ob die Neutrinos von oben oder unten kommen. Der Japaner Kajita hat nun bei Messungen festgestellt, dass von unten weniger Neutrinos kommen als von oben, es müssten allerdings gleich viele ankommen. Doch warum kommen von unten weniger Neutrinos an, als von oben? Die Neutrinos, die von unten kommen, haben einen viel längeren Weg, sie legen etwa zwölftausend Kilometer mehr Weg zurück als die Neutrinos, die von oben kommen. Diese müssen „nur“ zehn Kilometer Atmosphäre durchdringen. Auf dieser Strecke wandeln sich die Myon-Neutrinos in Elektron-Neutrinos um (die sogenannte Neutrinooszillation), für diese Erkenntnis hat man den diesjährigen Nobelpreis vergeben. Dieser ist also für Messungen vergeben worden, die mittlerweile etwa zwölf, dreizehn Jahre alt sind. Heutzutage gibt es gezielte Messungen von Neutrinos, Neutrinooszillationen kann man mittlerweile, wenn man genug Geld besitzt, im CERN (der großen Beschleunigeranlage) bestellen.

Wo lassen sich diese neu gewonnenen Erkenntnisse nun anwenden?

Also eine praktische Anwendung, die unser Leben verändert, wird es nicht geben, das ist Grundlagenforschung. Die Frage nach der praktischen Anwendung ist natürlich schwierig, in vielen Bereichen lassen sich die Anwendungen erst viel später erkennen. Bei den Neutrinos halte ich das für sehr abwegig. Es gibt allerdings eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Nutzen und der Wahrnehmung der Öffentlichkeit über die Kosten. Uns sind viele Verletzungen des Standardmodells bekannt, das „Neutrinooszillations-Rätsel“ beispielsweise, es gibt allerdings auch viele andere Dinge, die nicht durch das Standardmodell erklärt sind. Man muss nun schauen, wie man Messungen mit geringerer Fehlerrate erzeugen kann, um zu beweisen, dass das Standardmodell unzureichend ist. Die „Stringtheorie“ ist die bekannteste Theorie, die die Erweiterung des Standardmodells beschreibt, diese gibt es seit etwa zwanzig Jahren. Sie wird ständig verbessert und verfeinert, allerdings kann sie kein geschlossenes Bild abgeben. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Anwendungen sehe ich eigentlich keine von Neutrons.

ZUR PERSON Prof. Dr. Andreas Schrimpf ist Leiter der AG Astronomiegeschichte und beobachtende Astronomie, außerdem seit 2002 Leiter der Gerling-Sternwarte der Universität Marburg. In Zusammenarbeit mit der AG Didaktik sollen kleinere Projekte die Möglichkeit zur Vertiefung von astrophysikalischen Themen bieten. Im März 2015 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt.
FÜR ALLE INTERESSIERTEN Mitte Februar 2016 (das genau Datum wird noch bekannt gegeben) bietet der Fachbereich Physik im Rahmen einer Lehrerfortbildung einen Vortrag über den Physik Nobelpreis an.

FOTO: Amber Case auf flickr.com, CC-Lizenz

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