Sneak-Review #179 Die Wütenden – Les Misérable

Sneak-Review #179 Die Wütenden – Les Misérable

Nach 1917 lief diese Woche ein weiterer Oscarkandidat in der Sneak. „Die Wütenden – Les Misérable“ von Ladj Ly ist nominiert für den besten internationelen Film. Ob der Film seiner Nominierung gerecht wird, erfahrt ihr im Folgenden.

L’intrigue

Der Polizist Stéphane (Damien Bonnard) lässt sich nach Montfermeil, einem Vorort von Paris, versetzen, um näher bei seinem Sohn und seiner Exfrau Leben zu können. Er wird Teil einer Sondereinheit von Zivilpolizisten zur Verbrechensbekämpfung auf den Straßen. Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djibril Zonga) zeigen Stéphane seine neue Arbeitswelt vom Rücksitz ihres Dienstwagen aus. Schnell wird klar, dass die Institution Polizei unter anderem hier anders funktioniert. Gerade für den aufbrausenden Chris gehören Grenzüberschreitungen zum Alltag. Für die Einheit steht im Vordergrund, ihren Einfluss und ihre Macht als Polizei aufrechtzuerhalten, um auf der Straße überhaupt noch handlungsfähig zu sein.

Während Stéphanes erstem Tag droht es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen zwei Clans zu kommen. Ein Jugendlicher hat ein Löwenjunges von einem Schausteller-Clan geklaut. Toleriert und doch verachtet von allen, machen sich die drei Polizisten auf, um zur Deeskalation der Lage beizutragen. Da die einzige Sprache, die alle beteiligten Gruppen verwenden können um sich zu wehren die Gewalt ist, droht der Vorort und die drei Polizisten unter der aufkommenden Wut derer, die unter eben dieser Gewalt leiden, unterzugehen.

Eine Clanstadt

Durch wirtschaftliche und politische Probleme der Bewohner erodieren nicht nur staatliche Institutionen, wie die Polizei in Montfermeil, sondern auch gesellschaftliche Ordnung und Ideale. Ein Clananführer (Steve Tientcheu), der nur der Bürgermeister genannt wird, steht stellvertretend für neue Strukturen, die die Clans in der Stadt bilden. Er beschafft Leuten Arbeit, bestimmt die Wochenmärkte und hat das Sagen unter den Bewohnern in den Projektbauten. In Montfermeil basieren diese Strukturen unter anderem auf Gewalt, Verbrechen, Religion und Nationalität. Dazwischen ist die Polizei mittlerweile nur noch Moderator. Um ihr Gewaltmonopol nicht zu verlieren, arbeiten sie mit den Clans zusammen. Für die Polizei ist es oftmals die einzige Möglichkeit überhaupt Einfluss zu haben, da sie eine offene Konflikteskalation nicht bewältigen könnten.

Die dort lebenden Menschen sind gezwungen sich dem anzupassen. Sie geben sich den Verbrechen und der Gewalt hin. Ein Blick in die Wohnung einer älteren schwarzen Frau bei einer inoffiziellen Durchsuchung zeigt beispielsweise viele Frauen in Gewändern beim Geld zählen. Sie haben es durch Kreditbetrug erhalten. Auch der private Lebensraum wird zu einem unfreien Ort. Die Strukturen unter denen die Bewohner leiden reproduzieren sie aus Zwang selber wieder. Lediglich die jüngeren Kinder können sich eine gewisse Unschuld zuschreiben und müssen unter den Auswirkungen leiden ohne eine eigene Stimme zu haben.

Sind Wut und Gewalt politisch?

Die Verrohung der Gesellschaft wird durch Bilder und Handlungen im Film gekonnt gezeigt. Das Flair der Vorstadt sorgt für schöne Kamerafahrten durch die Ghettos. Leider fehlt in manchen Szenen und Dialogen die Spitzfindigkeit um hier noch weiter anzusetzen. Ein Ausruf wie Ich bin das Gesetz“ oder ein Dialog über die eigene Grenzüberschreitung, der eher als Smalltalk zu werten ist, untergräbt leider die sehr gute Bildsprache des Films. Obwohl der Film größtenteils aus der Perspektive der drei Polizisten gezeigt wird, nutzt er diese nicht um sich und ihre eigene Hilflosigkeit zu erklären. Sie werden lediglich als Opfer der Umstände gezeigt. Sie könnten allerdings viel mehr sein, wenn sie sich genauer über ihre eigene Rolle als Polizisten streiten würden. So leiden die Figuren der Polizisten und jene Figuren, die dafür weniger Screentime bekommen, darunter.

Gekonnt wird mit einem unterschwelligen aber dröhnenden Sound die Ohnmacht der dort lebenden Menschen auf einer weiteren Ebene übertragen. Gerade weil die Zuschauer:innen die korrumpierte Umgebung, der die hier lebenden Menschen ausgeliefert sind, beobachten, wird Gewalt zwar ein verstörendes, aber aufgrund der Hilflosigkeit auch ein politisches Mittel. Was für die Jugendlichen die blinde Flucht nach vorne ist, ist für den Film die Untermalung der Hilflosigkeit der Heranwachsenden in solchen Problemvierteln.

Das Finale wirft die Frage auf, ob Gewalt ein Zeichen des politischen Ausdrucks sein sollte, wie weit man dabei gehen dürfte und was danach kommt. Die Antwort müssen die Zuschauer:innen nach Ende des Films allerdings selber finden.

Die Wütenden – Les Miserable erscheint ab dem 23. Januar in den deutschen Kinos.

Foto: Wild Bunch

studiert Politikwissenschaften, verbringt zu viel Zeit um sich über die BILD aufzuregen und isst süßes und salziges Popcorn gemischt.

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