Sneak-Review #259: Von Moortöchtern und anderen Schreckensgestalten
Bild: Niklas George
Das Erwachen der Jägerin ist die Verfilmung des 2017 erschienenen Romans The Marsh King’s Daughter, geschrieben von Karen Dionne. Regisseur Neil Burger hat Erfahrung mit Literaturverfilmungen, 2016 führte er bereits Regie bei dem ersten Teil der seelenlosen Divergent-Reihe. Mit seinem neuesten Film liefert er einen überraschend guten Thriller ab, der sehenswerte schauspielerische Leistungen, eine packende Geschichte und emotionalen Tiefgang besitzt.
Das Leben von Helena (Daisy Ridley) ist von außen betrachtet recht unauffällig, geradezu unaufregend routiniert. Während ihr Bürojob das ausgiebige Ausfüllen von Excel-Tabellen verlangt, bietet auch ihre liebevolle Beziehung zu Ehemann Stephen (Garrett Hedlund) und die Erziehung von Tochter Marigold (Joey Carson) nichts, was diesen Frieden stören könnte. Dennoch hat sie stets mit den Geistern ihrer Vergangenheit zu kämpfen: Ihr Vater Jacob (Ben Mendelsohn) ist der sogenannte ‚Marsh King‘. Er entführte vor Helenas Geburt ihre Mutter Beth (Caren Pistorius), um mit ihr in den ausgedehnten Sumpfgebieten Michigans ein autarkes Leben fernab jeglicher Zivilisation zu führen. Zum Schutze Helenas fügte sich ihre Mutter und entschied sich für das stille Leiden, womit ein Familienleben in schwelender Dysfunktionalität begann. Helena wuchs ohne dieses Wissen auf, ihr vorgeblich liebevoller Vater wurde zum Mittelpunkt ihres Lebens. Er lehrte sie das Jagen, Fischen und nebenbei auch die großen Weisheiten des Lebens. Diese Lektionen brannten sich nicht nur in ihr Gedächtnis, sondern wurden auch in Form von Tätowierungen unter ihrer Haut verewigt.
Nach einem geglückten Fluchtversuch ihrer Mutter, der Helena aus dieser für sie heilen Welt riss, wurde ihr Vater verhaftet und Helena erfolgreich in die Gesellschaft eingegliedert. Sein liebevolles Versprechen, dass er wiederkommen würde, um mit Helena dieses Leben fortzusetzen, wurde somit nach einiger Zeit zu einer bedrohlichen Vorhersage. Nachdem bekannt wird, dass nach jahrelanger Haft dem Marsh King die Flucht gelungen ist, wird Helena wieder aus ihrer heilen Welt gerissen. Auch die Nachricht, dass er bei der Flucht angeblich ums Leben gekommen sei, beruhigt die junge Mutter wenig. Helena ahnt, dass der Zeitpunkt naht, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.
Es ist nicht leicht, die Handlung von Das Erwachen der Jägerin (furchtbarer deutscher Titel!) angemessen nachzuerzählen. Neben dem interessanten Einstieg, der die nichtsahnenden Zuschauer*innen direkt nach knapp zehn Minuten durch einen kleinen Twist am Haken hat, ist es vor allem eine subtile Erzählweise, die die Literaturadaption auszeichnet. Die Dialoge wirken dabei authentisch und nicht wie Expositionsgeplapper, es wird den Zuschauer*innen für eine Hollywoodproduktion angenehm viel zugetraut, was das Füllen mancher unerklärter Erzähllücke angeht. Ebenso ist das Erzähltempo ruhiger und gibt Szenen und der Handlung selbst die Zeit, ihre Wirkung zu entfalten. Die sich über den Handlungsverlauf anbahnende Rückkehr des Marsh King wird ohne große Effekthascherei zur Bedrohung aufgebaut, das Drehbuch, geschrieben von Elle Smith und Mark L. Smith, setzt auf die emotionale Fallhöhe und die Konsequenzen, die eine Rückkehr für das Leben der Figuren hat.
Daisy, Ben und der Thrill
Hauptdarstellerin Daisy Ridley schafft es, mit ihrer Performance sowohl die emotionalen als auch physischen Aspekte ihrer Rolle glaubwürdig darzustellen. Sie beherrscht die introvertierte Ruhe genauso wie ihre paranoischen Ausbrüche, die die Figur Helena immer wieder überkommen. Es ist aber vor allem die Physis, die Ridley gekonnt und natürlich auf die Leinwand bringt, welche zwar nicht ganz auf einer Ebene mit Sigourney Weaver in Aliens mithalten kann, jedoch hoffen lässt, dass Daisy Ridley in Zukunft mehr Ausflüge ins Action-Genre unternimmt.
Ben Mendelsohn geht vollkommen in der Rolle des schwierig einzuschätzenden Marsh King Jacob auf. In seinen wenigen Szenen verkörpert er eine brodelnde Bösartigkeit, die stets Unsicherheit hinterlässt, mit was für einem Charakter man es hier wirklich zu tun hat – dem liebenden Vater aus Helenas Erinnerungen oder dem unmenschlichen Verbrecher aus den Polizeiberichten. Mendelsohn verkörpert diese Ambivalenz gekonnt, seine Performance erinnert an seine Rollen in Bloodline oder Animal Kingdom. Wie Helena wünscht man sich, dass er sich als der sympathische, liebevolle Vater herausstellt und ist deshalb umso enttäuschter und angewiderter, wenn er sein wahres Gesicht zeigt und seine Fassade als das entlarvt wird, was sie wirklich ist: nur Show, um seinen Egozentrismus auszuleben und Menschen seine Weltanschauung aufzuzwingen.
Das macht Helenas Handlungen gegen Ende auch nachvollziehbar und es entsteht ein Showdown zwischen Gegenspieler*innen mit glaubwürdigen Motiven und einer überzeugenden Eskalationsspirale, woran andere Actionthriller oft scheitern. Insgesamt ist das Casting sehr passend, neben dem sympathischen Gil Birmingham als Helenas Stiefvater Clarke sticht vor allem Garrett Hedlund als sorgsamer Ehemann von Helena auf gewisse Art heraus. Seine Rolle ist der sorgsame Ehemann, der sich um die Kinder kümmert und selbst nie zur Tat schreitet, obwohl seine äußerliche Erscheinung die eines kernigen Actionhelden ist, während Daisy Ridleys Figur diejenige ist, die die Rolle der Familienbeschützerin einnimmt. Diese Subversion der Rollenbilder, die – als weiteres aktuelles Beispiel – auch in der vierten Staffel True Detective erkennbar ist, bringt auf jeden Fall frischen Wind in das zeitgenössische Thrillergenre.
Neben der Thematik von Helenas Kampf mit ihrem emotionalen Zuhause scheint Das Erwachen der Jägerin auch subtil eine Kritik am Genre des True Crime zu äußern. Die Handlung blickt auf die unscheinbaren Opfer solcher medialen Schreckensgestalten, die wie Jacob einen ‚Künstlernamen‘ erhalten und der Mythos dieser reißerischen Ikonisierung wird entzaubert. Es handelt sich letztlich um einen Film über einen ikonischen Verbrecher, der aus der Perspektive der Opfer erzählt wird und ihnen ermöglicht, mehr als nur Opfer zu sein, indem sie die Hoheit über Deutung und Verlauf der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlangen.
Sumpfige Schönheit
Da ein Teil des Produktionsteams auch an The Revenant von Alejandro González Iñárritu beteiligt war, finden sich auch in Das Erwachen der Jägerin viele reale Sets und schöne Außenaufnahmen, die sehr zum atmosphärischen Aufbau beitragen, ohne jedoch (verständlicherweise) all in zu gehen wie The Revenant und nur auf natürliches Licht sowie weitere Unbequemlichkeiten von Außendrehs zu setzen. Die Sumpflandschaften Michigans mit ihrer sehenswerten Natur sind der heimliche Star und Das Erwachen der Jägerin reiht sich damit an die Thriller Taylor Sheridans wie Wind River oder Hell or High Water an, die ebenso die Schönheit aber auch Unbarmherzigkeit amerikanischer Landschaften hervorheben. Ein abwechslungsreicher Soundtrack, der stets mit der Stimmung der Szenen einhergeht sowie eine Kameraarbeit, die unaufdringlich unerwartete Perspektiven einstreut, runden Das Erwachen der Jägerin zu einem sehenswerten Thriller ab, der in vergangenen Zeiten das Potenzial gehabt hätte, zu einem Videotheken-Geheimtipp zu werden.
84% der Sneak-Zuschauer*innen machten sich nach dem Abspann mit Zelt und Gaskocher auf in die Wildnis und bewerteten Das Erwachen der Jägerin positiv, während 16% lieber nochmal Das Erwachen der Macht gucken würden und negativ abstimmten.
(Lektoriert von lhs und hab.)
Seit November 2023 bei PHILIPP am Start. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Ist gut darin, schweigend auf Bildschirme jeglicher Größe zu starren. Hält sich durch übermäßigen Matekonsum bei Bewusstsein.