Marburger Kamerapreis 2024 – Review Vorreihe: Herzstein
Der diesjährige Marburger Kamerapreis geht an den skandinavischen Bildgestalter Sturla Brandth Grøvlen. Zur Vorbereitung dieser ausschließlich an Bildgestalter*innen verliehenen Ehrung, zeigt das Capitol ausgewählte Filme des Preisträgers. Der zweite Film dieser Reihe ist das isländische Coming-of-Age-Drama Herzstein (2016) von Guðmundur Arnar Guðmundsson, das eine warmherzige Geschichte über den Kampf mit der Nonkonformität im kalten Island erzählt.
Thór (Baldur Einarsson) lebt in einer kleinen Ortschaft auf Island. Der Teenager, der gerade inmitten der Pubertät steckt, ist in seiner körperlichen Entwicklung noch nicht so weit wie die anderen Jungen aus der Gegend. Das stellt für ihn ein Problem dar, möchte er doch Eindruck bei Beta (Diljá Valsdóttir) schinden, die sein Interesse geweckt hat. An seiner Seite ist Kristján (Blær Hinriksson), ein Freund von der Art, die einfach jederzeit Zuhause aufkreuzen kann, also fast schon Teil der Familie ist. Kristján hat zwar eine eigene Familie, doch vor allem wegen seines Vaters, der im Dorf für seine Gewaltausbrüche bekannt ist, hält es ihn nicht wirklich in den heimischen vier Wänden. Da Kristján ein guter Freund ist, bändelt er mit Betas bester Freundin Hanna (Katla Njálsdóttir) an, um Thór bei der Annäherung an Beta zu unterstützen. Dabei stellt sich jedoch heraus, dass Kristján mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Thór empfindet.
Durchs kalte Island
Herzstein erinnert von seiner Erzählung der Coming-of-Age-Thematik an Filme wie Mid90s. Es gibt keine vordergründige Geschichte, vielmehr wirkt der Film wie eine Einladung in den ländlichen Alltag eines isländischen Teenagers. Sind es in Mid90s die Skateparks, die hippen Klamottenläden und die kalifornische Sonne, die das Leben der Heranwachsenden bestimmen, so sind es in Herzstein der Dorfimbiss mit Spielautomaten, die Fußballwiese und der wolkenverhangene Himmel. Die sich dazwischen abspielenden Szenen stellen unaufgeregt die Hauptfiguren Thór und Kristján in einer aufregenden Lebensphase vor. Der schleichende, stete Wechsel des Erzählfokus’ zwischen den beiden Protagonisten trägt zusätzlich dazu bei, dass bei oberflächlicher Betrachtung nicht das Gefühl einer stringenten Erzählung aufkommt. Das entpuppt sich jedoch nicht als Mangel, denn die Nähe, mit der man Thór und Kristján kennenlernt und verfolgt, bietet eine intensive Erfahrung.
Zu verdanken ist dies vor allem der Kameraarbeit von Sturla Brandth Grøvlen, der in Herzstein oft die für ihn charakteristische Handkamera einsetzt und so nicht nur Nähe suggeriert: Zuschauer*innen werden vielmehr zum Kompagnon der Teenager, marschieren mit ihnen ausgetretene Wege entlang, springen mit ihnen in Gewässer, lassen sich ins hohe Gras fallen oder verstecken sich unter der Bettdecke. Die Intimität der Thematiken Pubertät und erste Annäherungsversuche werden somit auch durch die Bildgestaltung subtil vermittelt, was den Film allein dadurch schon sehenswert macht.
Auch arbeitet Grøvlen in Herzstein wieder mit natürlichem Licht, was dem Film kalte Bilder und somit eine oftmals kalte Atmosphäre verleiht. Zudem ist bemerkenswert, dass Herzstein sich nie zu sehr auf seine Kulisse verlässt. Andere Filme nutzen die isländische Landschaft als Schauwert und lassen die natürliche, dramatische Schönheit der Berge, Küste und der außerweltlichen Grundstimmung für sich sprechen. Guðmonsson und Grøvlen bleiben mit der Kamera bei den Protagonisten, lassen sie in dieser malerischen Umgebung zwar agieren, sie jedoch nicht von ihr verschlucken. Herzstein erschafft Emotionen über bekannte Gefühle in den Gesichtern der Menschen, nicht über Fernweh nach unbekannten Landschaften. Getragen wird dieser Ansatz von herausragenden jungen Hauptdarstellern, die es schaffen, komplexe Gefühle allein mit ihrer Mimik zu vermitteln.
Meine Probleme, deine Probleme, unsere Probleme
Einen großen Unterschied zum bereits erwähnten Mid90s stellt die zeitliche Verortung sowie die inhaltliche Ausrichtung dar. Während Jonah Hills Film eine Ode an das Heranwachsen in den 90er Jahre ist und somit ein generationales Zielpublikum ansprechen will, entkoppelt sich Herzstein von einer vordergründigen zeitlichen Zuordnung und widmet sich einem generationsübergreifenden Thema, nämlich der Nonkonformität in einer konformitätsfordernden Gesellschaft. Die zeitliche Entkopplung ist dafür nicht nur wichtig, sondern notwendig, da die Probleme mit der Andersartigkeit innerhalb einer Gemeinschaft, die den kleinsten Ausfallschritt mit psychischer oder physischer Härte bestraft, die Zeit überdauern und stets aktuell bleiben.
Herzstein macht aus dem queeren Kristján kein einzigartiges Politikum, sondern vergleicht seine Probleme elegant mit jenen, mit denen jeder Mensch zu kämpfen hat, der es wagt, seine Nonkonformität nach außen zu zeigen – sei es die Promiskuität von Thórs Mutter, das Verfolgen einer Karriere als Künstlerin von Thórs Schwester Hafdís oder Thórs fehlende Körperbehaarung. Sie werden von der Gesellschaft herausgestellt, bekommen durch die willkürliche Perspektive von anderen ihren Wert zugeschrieben und müssen standhaft bleiben, zu ihrer eigenen Identität zu stehen.
Dabei relativiert Herzstein jedoch nicht queere Erfahrungen, sondern zeigt genau an diesem Punkt, dass es für queere Menschen dabei um mehr geht als nur das Verfolgen eigener Lebensentwürfe oder die Akzeptanz des eigenen Körpers. Es geht für sie um Leben und Tod. Auf selten erreichte Weise wird so die Spezifität der queeren Erfahrung für ein nicht-queeres Publikum bis zu einem gewissen Punkt anknüpfbar und zeigt darüber hinaus dennoch die Schwere des Kampfes um Toleranz innerhalb der Gesellschaft, selbst in einem vorgeblich toleranten Land wie Island, das schon 1940 Homosexualität entkriminalisierte. Das brachte Herzstein unter anderem den Queer Lion, einen der wichtigsten Preise für LGBTQ-Filme, der Filmfestspiele von Venedig ein.
Seit November 2023 bei PHILIPP am Start. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Ist gut darin, schweigend auf Bildschirme jeglicher Größe zu starren. Hält sich durch übermäßigen Matekonsum bei Bewusstsein.
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