Sneak-Review #251: The Quiet Girl

Sneak-Review #251: The Quiet Girl

Bild: Annabell Sent

In seinem Spielfilmdebüt The Quiet Girl erzählt der irische Regisseur und Drehbuchautor Colm Bairéad eine bewegende Geschichte von Gefühlen, die uns die Sprache rauben, und wie der falsche Umgang damit nicht nur das eigene Leben bestimmt.

Irland 1981. Die neunjährige Cáit (Catherine Clinch) lebt mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern in einer ländlichen Gegend. Trotz großer Familie ist sie in ihrem Alltag in der Schule und zuhause auf sich allein gestellt. Ihre beiden älteren Schwestern beäugen sie nur argwöhnisch, ihre Mutter (Kate Nic Chonaonaigh) steckt gerade wieder in einer Schwangerschaft und ihr Vater (Michael Patric) fühlt sich nur seiner Arbeit und dem Kneipenleben verpflichtet. Im Schweigen hat Cáit einen Weg gefunden, sich durch ihr desinteressiertes, liebloses Umfeld zu manövrieren. Als die Sommerferien beginnen, erhält sie die Chance, dem sowohl emotional als auch finanziell verarmten Familienleben zu entfliehen. Sie darf den Sommer auf dem Hofgut bei ihrer Tante und ihrem Onkel verbringen. Ihre warmherzige Tante Eibhlín (Carrie Crowley) versucht von Anfang an, Cáit ein schönes Zuhause zu bieten, während Onkel Seán (Andrew Bennett) das Mädchen gar nicht zu beachten scheint. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten taut Cáit schnell auf und darf zum ersten Mal wirklich Kind sein. Selbst Seán kann sich der entwaffnenden Ehrlichkeit Cáits nicht entziehen und schon bald wächst eine tiefgehende Verbindung zwischen den beiden heran.

Die Sprache des Schweigens

Mit dem bitterbösen Banshees of Inisherin und dem schwelgerischen Belfast gab es in den letzten Jahren diverse Beiträge aus der irischen Filmlandschaft, die international für Aufsehen sorgten. Darunter reiht sich nun auch das Coming-of-Age-Drama The Quiet Girl ein, das eng mit der traumatischen irischen Historie verwoben ist (die Originalvertonung ist fast vollständig auf Gälisch!) und durch die subtile Erzählweise dennoch genug Identifikationspunkte für ein weltweites Publikum bietet. Basierend auf der Kurzgeschichte Foster von Claire Keegan aus dem Jahr 2010 befasst sich Regisseur Colm Bairéad mit der unterschiedlichen Verarbeitung von Trauer in der Gesellschaft und den individuellen Familiengeschichten, die daraus entstehen. 

Es ist vor allem die Sprachlosigkeit im Angesicht von schmerzenden Erfahrungen und die Wirkung von unausgesprochenen Emotionen, die in The Quiet Girl thematisch im Mittelpunkt stehen. Kennzeichnend dafür sind die zwei unterschiedlichen Welten an Familienleben, die Cáit erlebt. Ihr Vater ist ein verbitterter Mann, der eigentlich Mitleid verdient hätte, wenn er sich nicht wie ein emotionsloser Egoist verhalten würde. Auch Cáits Onkel Seán hinterlässt den Eindruck, ein Mann von ähnlicher Natur zu sein, mit geradezu zwanghaftem Desinteresse an dem kleinen Mädchen. Umso berührender ist deshalb die Entwicklung, die Cáits unschuldige Art in Seán auslöst und ihre Beziehung auf subtile, unaufgeregte Weise in den Vordergrund rückt. Ihre Unfähigkeit in der sprachlichen Kommunikation überbrücken  beide mit kleinen, liebevollen Gesten und entwickeln somit eine eigene Sprache zueinander. Der Fokus der Erzählung liegt jedoch stets bei Cáit. Durch ihre kindliche Perspektive nehmen wir die Welt der Erwachsenen wahr, wodurch die Widersprüche, Ungereimtheiten und Verfehlungen eben jener umso deutlicher werden. 

Herzzerreißend authentisch

„Du bist noch ein Kind, du verstehst das nicht“ – nicht nur ist das ein Zitat aus dem Film, sondern auch ein Satz, den wahrscheinlich jede*r schon mal so gehört hat. Dabei geht es in The Quiet Girl nicht etwa um ein Verständnisproblem der aktuellen Nachrichtenlage, sondern um die Kapitulation von Erwachsenen vor ihren eigenen Traumata. Auch wenn die Erwachsenen hier selber unfähig sind, ihre Traumata zu verstehen, wird es bei Cáit auf ihr junges Alter geschoben. Der Film entwaffnet diese allzu bekannte Aussage und zeigt, dass das Erleben von Emotionen vor niemandem Halt macht, vor allem nicht vor Kindern, denn man muss Trauer, Einsamkeit und Verlust nicht verstehen, um sie zu fühlen. Emotionale Intelligenz wird nicht erlernt, sie besteht von Anfang an und wird durch den Entzug von Liebe, Aufmerksamkeit und Geborgenheit zum wortwörtlichen Schweigen gebracht. Zwar kann und will The Quiet Girl dieser harten Erkenntnis kein Happy End entgegensetzen, bietet jedoch genug Hoffnung, dass dieser Teufelskreis durchbrochen werden kann. 

Neben der Sogwirkung der statischen Kameraarbeit von Kate McCullough in einem nahezu quadratischem Bildformat, sind es vor allem die beeindruckend nuancierten Performances von Catherine Clinch und Andrew Bennett, die The Quiet Girl zu einem sehenswerten Beitrag des Coming-of-Age-Genres machen. Menschen, die mit Filmen wie Die Kinder des Monsieur MathieuDer Club der toten Dichter oder Eighth Grade nichts anfangen können, werden auch mit The Quiet Girl leider keine gute Zeit haben. Wer jedoch ein Faible für ruhige Filme über die Besonderheiten menschlicher Beziehungen hat, darf sich hier auf einen herausstechenden Vertreter dieser Art von Filmen freuen.

81% der Sneak-Zuschauer*innen sahen dies ähnlich und gaben eine positive Bewertung ab, während 19 % leider keine Taschentücher dabei hatten und mit verheulten Augen und zittriger Hand auf eine negative Bewertung abrutschten. 

(Lektoriert von let, hab und jok.)

Seit November 2023 bei PHILIPP am Start. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Ist gut darin, schweigend auf Bildschirme jeglicher Größe zu starren. Hält sich durch übermäßigen Matekonsum bei Bewusstsein.

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