Marburger Kamerapreis 2024 – Review Vorreihe: Before the Frost

Marburger Kamerapreis 2024 – Review Vorreihe: Before the Frost

Der diesjährige Marburger Kamerapreis ging an den skandinavischen Bildgestalter Sturla Brandth Grøvlen. Zur Vorbereitung dieser ausschließlich an Bildgestalter*innen verliehenen Ehrung, zeigte das Capitol ausgewählte Filme des Preisträgers. Abschluss der vierteiligen Vorreihe war das dänische Drama Before the Frost von Michael Noer aus dem Jahr 2018, das von dem Überlebenskampf einer Bauernfamilie im Dänemark des 19. Jahrhunderts erzählt.

Eine schlechte Ernte bedeutet nie etwas Gutes. Im ländlichen Dänemark des 19. Jahrhunderts bedeutet eine schlechte Ernte sogar, dass der anstehende Winter ein Überlebenskampf mit denkbar schlechten Chancen wird. Das weiß auch Bauer Jens (Jesper Christensen), der sich nicht nur um seinen Hof und seine Felder kümmert, sondern auch um seine Tochter Signe (Clara Rosager) sowie seine beiden Neffen. Verhindern kann Jens dennoch nicht, dass ein plötzlicher Regen große Teile seiner Ernte für den Winter unbrauchbar macht. Das entgeht auch nicht seinen Nachbarn. Jens wird das Angebot unterbreitet, die nötigen Mittel zu erhalten, um durch den anstehenden Winter zu kommen. Als Gegenleistung soll Tochter Signe den Sohn der Nachbarn heiraten. Nachdem der scharfsinnige Jens das Angebot erhöhen kann, verspricht er die Hand seiner Tochter, wohlwissend, dass Signe sowieso Gefühle für ihren zukünftigen Ehemann hegt.

Da die Neffen von Jens trotzdem nicht weiter versorgt werden können, müssen sie gezwungenermaßen zur Arbeitssuche in die weite Welt reisen. Kurz vor den Vorbereitungen zur Hochzeit kommt Jens in den Kontakt zu seinem reichen schwedischen Nachbarn Gustav (Magnus Krepper). Dabei ergreift er die Chance und bietet dem alleinstehenden Witwer die Hand seiner Tochter. Mit einer Vermählung wäre nicht nur die Zukunft von Jens und Signe gesichert, auch seine Neffen könnten bleiben. Gustav nimmt das Angebot an, doch Signe zeigt sich überhaupt nicht einverstanden mit diesem Schicksalswandel. 

Mein Name ist Jens, Bauer Jens

Before the Frost wirkt im ersten Moment wie die Literaturverfilmung eines schillerschen Dramas. Unglückliche Liebe, gezwungene Heirat aufgrund von Standesverhältnissen, Dialoglastigkeit – alles an der inhaltlichen Oberfläche schreit nach Sonntagabendprogramm eines öffentlich-rechtlichen Senders, nach Pflichtlektüre im Deutsch-LK, statt großer Leinwand und mitreißender Spannung. Michael Noers Film kann sich diesem Eindruck beeindruckend entledigen.

Mit steigendem Interesse verfolgt man den authentisch anmutenden Alltag eines Bauern im Dänemark der Vergangenheit und lernt die Sorgen und Hoffnungen der Familie um Jens kennen. Verantwortlich sind dafür mehrere Faktoren. Zum einen gibt es da Jens, den Protagonisten. Absolut herausragend von Jesper Christensen (den meisten bekannt als Mr. White aus den James Bond-Filmen der Daniel Craig-Ära) gespielt, wäre es noch untertrieben, wenn man ihn als dreidimensionale Figur beschreiben würde. In unterschiedlichsten Facetten lernt man Jens kennen: der harte Arbeiter, das liebevolle Familienoberhaupt, der gerissene Händler und der lebenskluge Realist. All das und vieles mehr wird konzentriert zu einem Protagonisten, der die Zuschauer*innen in seinen Bann zieht und der Geschichte ihren emotionalen Mittelpunkt gibt. Zu der zentralen Stellung von Jens trägt auch ein weiterer Punkt bei: die Kameraarbeit.

Ein echter Grøvlen

Nachdem bereits drei Filme als Vorprogramm zur Verleihung des Marburger Kamerapreises gezeigt wurden, lässt sich nach Sichtung dieser auch zu Before the Frost sagen, dass hier ein ‚echter Grøvlen‘ vorliegt. Sturla Brandth Grøvlen zeigt auch hier Methoden der Bildgestaltung, die ihm die Unverkennbarkeit seiner Arbeit verleihen. Handkamera, natürliches Licht, enge Figurenbegleitung – Grøvlen lässt seine ‚Bildgestaltungsmuskeln‘ spielen. Zuschauer*innen bekommen den Eindruck, ganz nah an Bauer Jens dran zu sein, ihn quasi durch die Geschichte zu begleiten. Oft gewinnt man den Eindruck, die Gedankenmühle von Jens in seinen von Kerzenschein beleuchteten Augen mahlen zu sehen. Man kann nur erahnen, was da in diesem Mann gedanklich vorgeht, aber nach dem grimmigen Ende möchte man Before the Frost direkt nochmal sehen mit dem Wissen, welche Überlegungen Jens in vielen Szenen wirklich beschäftigt haben.

Hinzu kommen immer wieder Sequenzen, die ohne (merklichen) Schnitt auskommen und so noch mehr Sog ins Geschehen erzeugen. Zur atmosphärischen Dichte trägt neben der Kamera und dem Einsatz von natürlichem Licht auch das Sounddesign bei. Die knarzenden Balken und Dielen der Holzhäuser, das Knacken von Feuer, der ausgetretene Matsch der Feldwege – Before the Frost klingt genauso schön wie es aussieht. Selten wurde auch die Schönheit des Schuftens so eingefangen wie hier. Audiovisuelles Highlight ist dabei die dramatische Geburtsszene eines Kalbes, bei der Jens den Geburtshelfer gibt –nervenzerrender als jeder dritte Akt aktueller Superheldenblockbuster. 

Neben den starken Figuren und der herausstechenden Ästhetik, bietet Michael Noers Film auch einiges an sozialkritischen Kommentaren, die angenehm subtil, aber auch nicht zu verschachtelt in die Handlung eingewoben sind. Strotzend mit Motiven des Spätwesterns zeigt Before the Frost einen Abgesang auf eine Zeit voll ehrlicher, körperlicher Arbeit und familiären Zusammenhalts, die von dem Zeitalter des Geldes überholt wird. Gesellschaftliche Hierarchien werden durcheinandergeworfen und Menschen verlieren auf der Suche nach einer höheren Stellung in der Gesellschaft mehr als nur ihren bisherigen Stand. Before the Frost ist eine kleine Geschichte mit großen Themen, wunderschön gefilmt und meisterhaft gespielt – ein echter Geheimtipp.

(Lektoriert von jok und let.)

Seit November 2023 bei PHILIPP am Start. Studiert Literaturvermittlung in den Medien. Ist gut darin, schweigend auf Bildschirme jeglicher Größe zu starren. Hält sich durch übermäßigen Matekonsum bei Bewusstsein.

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